Das Goldene Zeitalter arabischer Gelehrsamkeit

Arabische Forscher haben zweifelsohne bedeutende Beiträge für die Wissenschaft geleistet. Wie groß ihr Einfluss letztlich auf die westliche Welt war, beleuchtet der irakischstämmige Physiker Jim Al-Khalili in seinem Buch "Im Haus der Weisheit". Anne Allmeling hat es gelesen.

Von Anne Allmeling

Wenn wir heute über die Lage in den arabischen Staaten diskutieren, geht es fast immer um gegenwartsbezogene Themen wie Erdöl, Terrorismus, Revolution, Demokratie oder Menschenrechte. An "Wissenschaft" dagegen denkt kaum einer. Kein Wunder: Jahrhunderte lang schien die arabische Welt von der modernen Wissenschaft abgekoppelt zu sein.

Im 20. Jahrhundert spielten akademische Forschung, Rationalismus und Empirie in vielen arabischen Ländern eine untergeordnete Rolle – mit dem Ergebnis, dass allein die Universität Harvard im Jahr 2005 mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen publiziert hat als sämtliche Forscher aus 17 arabischen Ländern zusammengenommen.

Mittlerweile investieren viele arabische Staaten – nicht nur am ölreichen Golf – wieder deutlich mehr in Wissenschaft und Forschung. Bis sie europäischen Ländern im großen Stil auf diesem Gebiet Konkurrenz machen, wird es allerdings wohl noch eine Weile dauern.

Das war vor einigen Jahrhunderten eher umgekehrt. Damals haben Forscher aus der arabischen Welt Beiträge für die Wissenschaft geleistet, die bis heute sehr bedeutend sind. Der irakisch-stämmige britische Physiker und Wissenschaftsjournalist Jim Al-Khalili hat ein Buch darüber geschrieben: "Im Haus der Weisheit – Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur".

Interkulturelle Forschung im islamischen Großreich

Universität Al-Mustansiriya in Bagdad; Foto: wikipedia
Zentrum der Gelehrsamkeit unter den Abassiden: die 1227 vom Kalifen Al-Mustansir gegründete Universität in Bagdad zählt zu den ältesten weltweit.

​​Den Begriff "arabische Wissenschaften" fasst Jim Al-Khalili dabei ziemlich weit. Es geht ihm in erster Linie um wissenschaftliche Erkenntnisse, die in der arabischen Welt zur Zeit des Mittelalters gewonnen wurden. Während sich Araber und Iraner heute gelegentlich darüber streiten, wer die bedeutenderen Wissenschaftler hervorgebracht hat, spielt diese Frage für Jim Al-Khalili keine Rolle.

Zu Recht: Schließlich haben die beiden Bevölkerungsgruppen damals in einem islamischen Großreich zusammengelebt. Ihre Verkehrssprache war Arabisch, und deshalb haben sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse auch auf Arabisch geschrieben – und eben nicht auf Persisch.

"Arabische" Wissenschaften sind für Jim Al-Khalili also Erkenntnisse, die auf Arabisch verfasst wurden – unabhängig davon, welcher Nationalität die Forscher angehörten oder ob sie Muslime, Christen, Juden oder Zoroastrier waren.

Während man im europäischen Mittelalter – auch "Dunkles Zeitalter" genannt –  nur vergleichsweise wenig übrig hatte für Wissenschaft und Forschung, entwickelte sich vor allem das Gebiet des heutigen Irak zu einer Art Wissenschaftszentrum. Jim Al-Khalili richtet unseren Blick gen Osten: Im 9. und 10. Jahrhundert entstand unter der Herrschaft der Abassiden eine blühende Zivilisation, die große Genies hervorbrachte.

Die berühmte Bibliothek von Bagdad galt als "Haus der Weisheit" und zog Forscher aus dem ganzen Reich an. Sie beschäftigten sich nicht nur intensiv mit den Werken der alten Griechen, sondern ergänzten und erweiterten sie mit eigenen wissenschaftlichen Entdeckungen – eine Tatsache, die heute oft übersehen wird.

Für dieses Goldene Zeitalter des wissenschaftlichen Fortschritts macht Jim Al-Khalili unter anderem die Leidenschaft für das Übersetzen antiker Texte ins Arabische verantwortlich, die unter der Herrschaft der Abassiden zu einer wissenschaftlichen Triebkraft wurde und den Prozess der wissenschaftlichen Forschung entscheidend vorantrieb.

Zivilisatorischer Forschritt im arabischen Gewand

Jim Al-Khalili beschäftigt sich in seinem Buch mit einer ganzen Reihe von Disziplinen, die unter den arabischen Wissenschaftlern aufblühten, insbesondere die Philosophie, Astronomie, Medizin und Mathematik. So erklärt er zum Beispiel, wie aus dem Namen des arabischen Universalgelehrten Al-Khwarizmi die Bezeichnung "Algorithmus" hergeleitet wurde, mit der generell genau definierte Rechenverfahren gemeint sind.

Abschrift von Avicennas Kanon von 1597
Ikone der medizinischen Wissenschaften: Avicenna schrieb den "Kanon der Medizin", der sowohl in der islamischen Welt als auch in Europa lange Zeit als medizinisches Standardwerk diente.

​​Al-Khalili beschreibt, was dieses Mathematikgenie von allen anderen Mathematikern vor ihm unterscheidet: Al-Khawarizmi beschäftigte sich nicht mehr nur mit Einzelaufgaben, sondern formulierte allgemeine Prinzipien und Regeln, um quadratische Gleichungen zu lösen.

Er kam auch auf Idee, mit Dezimalzahlen zu arbeiten, und er führte die Ziffer Null aus dem indischen in das arabische Zahlensystem und damit in alle modernen Zahlensysteme ein.

Ein anderes Beispiel für herausragende wissenschaftliche Leistung ist Ibn Sina, der manchen als einer der wichtigsten Denker in der gesamten Geschichte gilt. Ibn Sina, der auch unter seinem lateinisierten Namen Avicenna bekannt ist, schrieb unter anderem den "Kanon der Medizin", der sowohl in der islamischen Welt als auch in Europa für die nächsten 600 Jahre als medizinisches Standardwerk diente.

Jim Al-Khalili macht in seinem leicht verständlich geschriebenen Buch deutlich, dass Wissenschaftler aus der arabischen Welt einen großen Beitrag geleistet haben, der heute oft nicht einmal mehr in der arabischen Welt gebührend gewürdigt wird. Dabei geht es ihm aber nicht darum, die Wissenschaftsgeschichte neu zu schreiben oder den Ruf der arabischen Wissenschaften zu verteidigen – zumal es bereits zahlreiche Publikationen über den Einfluss der arabischen Forscher auf die westliche Welt gibt.

Eine neue Sicht auf die Wissenschaftsgeschichte

Ohne den Einfluss der arabischen Wissenschaftler zu übertreiben, macht Jim Al-Khalili deutlich, dass Errungenschaften von islamischen Gelehrten in einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Fachgebiete heute entweder heruntergespielt oder nicht voll gewürdigt werden. Er lädt zum Mitdenken ein und eröffnet eine neue Sicht nicht nur auf die arabische Welt im Mittelalter, sondern auch auf die Wissenschaftsgeschichte allgemein.

​​Warum die arabischen Wissenschaften in der Renaissance an Bedeutung verloren und sich der Forscherdrang nach Europa verlagerte, kann der Autor, der als Professor für Physik in England arbeitet, allerdings nicht erklären.

Die Angriffe der Mongolen im 13. Jahrhundert, die in einer völligen Zerstörung Bagdads und des Abassidenkalifats mündeten, werden eine bedeutende Rolle gespielt haben – aber auch eine religiöse Retraditionalisierung, die weiteren wissenschaftlichen Fortschritten im 12. und 13. Jahrhundert im Wege stand.

Ob die Bezeichnung "arabische Wissenschaften" für die wissenschaftlichen Erkenntnisse in arabischer Sprache angemessen ist, sei ebenfalls dahingestellt – sie bleibt eine Vereinfachung für wissenschaftliche Erkenntnisse, die von Männern unterschiedlichster kultureller, religiöser und sozialer Hintergründe gewonnen wurden, genauso.

Insgesamt aber leistet Jim Al-Khalili einen auch für Laien verständlichen und spannend zu lesenden Beitrag zu der Frage, welchen Anteil die arabischen Länder zur Entwicklung von Wissenschaft und Forschung generell beigetragen haben.

Anne Allmeling

© Qantara.de 2011

Jim Al-Khalili: "Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur"; (aus dem Englischen von Sebastian Vogel). S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011