Warum Zensusdaten ein erstrangiges Politikum sind

Mit mehrjähriger Verzögerung hat die indische Regierung die Zensusdaten zur Religionszugehörigkeit veröffentlicht. Die Veröffentlichung der Zahlen könnte von den Parteien politisch instrumentalisiert werden und das Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen weiter belasten. Von Ronald Meinardus

Von Ronald Meinardus

Die Beziehung zwischen der Mehrheit und der größten Minderheit Indiens ist historisch schwer belastet. Erinnerungen an Gewalt und Vertreibung sowie Diskriminierungen, die bis in die Gegenwart reichen, belasten das Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen. Hinzu kommen Verdächtigungen und Vorurteile, die auf beiden Seiten fortbestehen und immer wieder neuen Nährstoff erhalten.

Beobachter erklären die Bekanntgabe der sensiblen Statistik zum jetzigen Zeitpunkt mit den bevorstehenden Wahlen. In wenigen Wochen wird im nordindischen Bundesstaat Bihar ein neues Landesparlament gewählt. Der Urnengang gilt als das wichtigste innenpolitische Ereignis des Jahres. Die Opposition unterstellt, die in Neu Delhi regierende Hindu-nationalistische "Bharatiya Janata Party" (BJP) von Ministerpräsident Narendra Modi, die mit großem Einsatz um die Macht in Bihar kämpft, wolle die Religionszahlen zur Stimmungsmache nutzen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Modi-Partei mit religiöser Propaganda die Hindu-Majorität in Wahlkämpfen mobilisiert hat.

Eine Schatzkammer für Soziologen und Demographen

Auffällig ist, dass die Statistikbehörde die Zahlen ohne Erklärung für den Zeitverzug und zudem kommentarlos ins Netz gestellt hat. Das ist erstaunlich, da das Zahlenwerk eine Schatzkammer für Soziologen, Demographen und all jene ist, die sich für die gesellschaftlichen Entwicklungen in Indien – vor allem das Verhältnis von Religion, Wachstum und Entwicklung – interessieren.

Die Schlagzeile, die gegenwärtig die indischen Medien beherrscht, lautet: Der Anteil der Hindus an der Gesamtbevölkerung ist unter 80 Prozent gefallen. Laut Zensusdaten lag dieser Anteil 2011 bei 79,8 Prozent – und damit erstmals unter der psychologisch wichtigen 80-Prozent-Grenze.

Indien Volkszählung 2011; Foto: dpa/picture-alliance
In Indien hatte die Volkszählung bereits 2011 stattgefunden, die Daten zur Religionszugehörigkeit hat die Regierung in Neu Delhi aber erst jetzt freigegeben.

Gleichzeitig ist der muslimische Anteil an der Gesamtbevölkerung Indiens von (zuvor 13,4 Prozent) auf 14,2 Prozent angestiegen. In absoluten Zahlen heißt dies: Indien zählte am Stichtag der Volkszählung im Jahre 2011 966 Millionen Hindus und 172 Millionen Muslime.

Rückgang der Wachstumsrate bei den Muslimen

Demografen empfehlen aus gutem Grund, man solle Zensusdaten in einem historischen Kontext und nicht als einmalige Momentaufnahme betrachten. Beim Studium der indischen Zahlen lassen sich aufschlussreiche und politisch bedeutsame Trends feststellen: Zwar ist einerseits proportional ein leichter Rückgang der Hindus an der Gesamtbevölkerung erkennbar. Gleichzeitig ist der Rückgang der Wachstumsrate bei den Muslimen höher als der entsprechende Wert bei der Mehrheitsbevölkerung.

Die größte Abnahme beim Bevölkerungswachstum wird bei den Muslimen registriert: dieses verminderte sich von 45, 2 Prozent in der Dekade vor der Volkszählung 2001 auf nur mehr 24,6 Prozent zehn Jahre später. Mit anderen Worten: Die Dynamik des muslimischen Bevölkerungswachstums hat deutlich nachgelassen. Der Trend eines langsameren Wachstums dauert seit drei Jahrzehnten an. Vor der Jahrtausendwende lag die jährliche Wachstumsrate der muslimischen Bevölkerung Indiens regelmäßig bei über 3 Prozent. Im neuen Millennium ist diese Rate auf 2,5 Prozent zurückgegangen.

Soziologen waren mit Erklärungen schnell zur Stelle. Der demografische Wachstumsschwund sei Ergebnis struktureller sozialer Veränderungen mit langfristigen demographischen Implikationen: "Der Einfluss der Grundschulerziehung auf die sinkende Fertilität der Muslime ist sehr hoch", so Amitabh Kundu vom Centre for the Study of Regional Development in Neu Delhi in einem Interview. Die Panikmache der Hindu-Nationalisten, die Muslime würden die Mehrheit langfristig verdrängen, sei Unsinn, so der Professor.

Muslimische Jungen in Neu Delhi; Foto: Ronald Meinardus
Schwindende Dynamik: Die größte Abnahme beim Bevölkerungswachstum wird bei den Muslimen registriert: dieses verminderte sich von 45, 2 Prozent in der Dekade vor der Volkszählung 2001 auf nur mehr 24,6 Prozent zehn Jahre später.

"Die Kluft wird größer"

Auch Amirillah Khan sieht einen Zusammenhang von Fortpflanzungsverhalten und Schulbildung. In einem Interview der The Times of India sagte der indische Entwicklungsforscher: "Der Grundschulbesuch ist die wichtigste Determinante der Familiengröße". Wenn muslimische Mädchen in jungem Alter in die Schule gehen, so die Erklärung des Wissenschaftlers, gehe das Heiratsalter hoch. "Als Folge verzögert sich die erste Schwangerschaft um drei bis fünf Jahre".

Diese positive Botschaft wird nicht in allen Lagern gerne gehört. Es ist Wahlkampfzeit in Indien. In den Auseinandersetzungen der Parteien versprechen populistische Parolen offenbar mehr als differenzierte Empirie.

Die oppositionelle Kongress-Partei, die sich als Sachwalterin des indischen Säkularismus sieht, sowie muslimische Organisationen warnen davor, dass hindu-nationalistische Eiferer die Zensusergebnisse einseitig ausschlachten werden: "Die BJP wird die Ergebnisse der Volkszählung von 2011 zur Polarisierung (der Wähler) nutzen", so Professor Sudha Pai von der Jawahrlal Nehru Universität Neu Delhi. Auch der prominente sunnitische Geistliche Maulana Mahali sieht in der Veröffentlichung der Statistik – trotz der positiven Signale –nur wenig Gutes: "Die Veröffentlichung der Daten zum jetzigen Zeitpunkt ist ein politischer Trick, der die wachsende Kluft zwischen den beiden Religionsgemeinschaften vergrößern wird."

Ronald Meinardus

© Qantara.de 2015

Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Neu Delhi.