Ein System ohne Legitimation

Ayatollah Montazeri gilt als Architekt der Islamischen Revolution von 1979, fiel bei Khomeini jedoch in Ungnade. Heute ist er einer der schärfsten Kritiker des Systems. Am 11. Juli veröffentlichte er eine Erklärung, in der er dem Regime die politische Glaubwürdigkeit abspricht. Von Urs Sartowicz

Ayatollah Montazeri gilt als Architekt der Islamischen Revolution von 1979, fiel bei Khomeini jedoch später in Ungnade. Heute ist er einer der schärfsten Kritiker des Systems. Am 11. Juli veröffentlichte er eine Erklärung, in der er dem Regime die politische Glaubwürdigkeit abspricht. Von Urs Sartowicz

Großajatollah Ali Hossein Montazeri; Foto: AP
Großajatollah Ali Hossein Montazeri gehört zu den einflussreichsten sowie schärfsten Kritikern des Systems und zu den entschiedensten Befürwortern seiner Reform.

​​ "Eine Herrschaft, die auf der Grundlage von Schlägen, Unterdrückung und Rechtsbrüchen errichtet ist, die sich unrechtmäßig Stimmen bemächtigt und Ergebnisse fälscht, die mordet, festnimmt und inhaftiert, die mit Folter wie im Mittelalter und im Stalinismus ein erstickendes Klima schafft, die Zeitungen zensiert und Kommunikationsmittel stört und die die gebildete Elite der Gesellschaft unter leeren Vorwänden verhaftet und zu falschen Geständnissen zwingt, eine solche Herrschaft ist nach religiösem Recht und menschlichem Verstand zu verurteilen und ohne Wert."

Selten sind im Iran die Differenzen zwischen den Regimetreuen um Revolutionsführer Ali Khamenei und den Reformanhängern so deutlich geworden, wie in den Wochen seit den umstrittenen Präsidentschaftswahlen Mitte Juni.

Nichts zeigt deutlicher, wie tief der Riss innerhalb des iranischen Systems geht, als das religiöse Gutachten (fatwa), welches der Geistliche und Dissident Großayatollah Ali Hossein Montazeri auf Anfrage seines Schülers Mohsen Kadivar verfasst und am 11. Juli auf seiner Internetseite veröffentlicht hat.

Vom Legitimationsverlust zum Sturz des Regimes

In der mehrseitigen Erklärung nimmt der angesehene Kleriker Stellung zu der Frage, ab wann ein Regime seine Legitimität verloren hat und wie mit einem solchen Regime zu verfahren ist.

Trauerveranstaltung für die bei den Unruhen getöteten Demonstranten; Foto: AP
Ayatollah Montazeri hatte seine Landsleute für den 22. Juli zu einer dreitägigen Trauer aufgerufen, um die bei den Protesten getöteten Demonstranten zu ehren.

​​Er antwortet darauf, dass ein Regime, das nicht länger die Unterstützung der Mehrheit besitzt und sich nur noch mit Betrug und Gewalt an der Macht hält, nicht nur gestürzt werden darf, sondern die Gläubigen sogar die religiöse Pflicht haben, auf friedlichem Wege seinen Sturz zu betreiben.

Denn, so argumentiert der Gelehrte, der Staat gehöre dem Volk und die Regierung müsse dem Volke dienen. Der Erhalt des Systems sei keine unbedingte Pflicht, besonders dann nicht, wenn das System nur noch den Interessen einer Person diene.

Der Erhalt der Islamischen Republik rechtfertige nicht den Einsatz von Gewalt, schließt er, vielmehr hätten besonders die Gebildeten und die Geistlichen den Auftrag, gegen die Unterdrücker aufzustehen.

Es sind nicht allein diese Sätze von beispielloser Deutlichkeit, welche die Brisanz des Textes ausmachen. Es ist vor allem das religiöse und politische Ansehen des Autors, die die Erklärung zu einem der schärfsten Angriffe auf das Regime machen.

Bedeutender Kritiker des Regimes

Denn Großayatollah Montazeri ist kein beliebiger Geistlicher, sondern die höchste religiöse Autorität im Iran. Millionen Gläubige erkennen ihn als "Quelle der Nachahmung" und damit als ihr Vorbild in religiösen Fragen an.

Seit langem gehört der 87jährige Geistliche zu den bedeutendsten Kritikern des Regimes und des Revolutionsführers Khamenei. Seit vielen Jahren steht er daher unter Hausarrest, seine Möglichkeiten zu lehren und sich öffentlich zu äußern sind stark eingeschränkt. Zahlreiche seiner Schüler und Anhänger sind verfolgt und verhaftet worden, doch hat Khamenei nie gewagt, ihn selbst festnehmen zu lassen.

Dies liegt zum einen an seiner religiösen Autorität und seiner ungebrochenen Popularität – der als Sohn armer Bauern nahe Isfahan geborene Gelehrte gilt als volksverbunden, bescheiden und unbestechlich – zum anderen liegt es an seiner politischen Bedeutung. Denn nicht nur zählt Montazeri zu den Vätern der Verfassung, sondern bis kurz vor dem Tod Ayatollah Ruhollah Khomeinis 1989 war er als sein Nachfolger im Amt des Revolutionsführers vorgesehen.

"Frucht meines Lebens"

Als langjähriger Vertrauter und Schüler Khomeinis – dieser bezeichnete ihn einst als "Frucht meines Lebens" – war Montazeri 1985 auf Khomeinis Vorschlag zu seinem Nachfolger gewählt worden.

Großayatollah Montazeri in den 1980er Jahren; Foto: DW
Großayatollah Montazeri war einst als Nachfolger Khomeinis vorgesehen, doch kurz vor dessen Tod wurde er wegen seiner Kritik an den massiven Menschenrechtsverletzungen des Regimes abgesetzt.

​​Doch in den Folgejahren kam es zwischen den beiden Männern immer wieder zu Differenzen um die Menschenrechtspolitik. Insbesondere kritisierte Montazeri, der unter dem Schah selbst viele Jahre in Haft gesessen hatte, die Behandlung der politischen Gefangenen.

Als Khomeini im Juli 1988 nach der gescheiterten Invasion der oppositionellen Volksmujahedin die Hinrichtung aller ihrer Anhänger verfügte, geißelte Montazeri in zwei Briefen diese Maßnahmen als unislamisch, unrechtmäßig und politisch unklug. In einer Rede zum 10. Jahrestag der Revolution im Februar 1989 ging Montazeri noch weiter und warf dem Regime vor, seine eigenen Werte und Ziele verraten zu haben.

Als im März 1989 die beiden Briefe, die Montazeri im Sommer 1988 an Khomeini geschrieben hatte, bei der BBC landeten, war das Ende erreicht. Khomeini ließ Montazeri als seinen Nachfolger absetzen und verbot ihm in einem Brief, in dem er ihm Naivität und Schwäche vorwarf, jede weitere Beteiligung an der Politik. Als Khomeini wenige Monate später starb, wurde der damalige Staatspräsident Ali Khamenei zum neuen Revolutionsführer gewählt.

Zweifel an Khameneis Kompetenz

Doch im Gegensatz zu Montazeri war Khamenei nur ein Geistlicher mittleren Ranges. Um ihm die Wahl zum Revolutionsführer zu ermöglichen, musste über Nacht die Verfassung geändert und er selbst zum Ayatollah aufgewertet werden. In den Augen vieler Geistlicher und weiter Teile der Bevölkerung blieben daher Zweifel an seiner Befähigung zur Ausübung des Amtes. Nicht zuletzt Montazeri sprach ihm immer wieder die Legitimität ab.

Mahmud Ahmadinedschad; Foto: AP
Montazeri hat jüngst Ahmadinedschad wegen seiner unnachgiebigen Haltung gegen die Protestbewegung angegriffen: "Es verstößt gegen die Gebote der Religion, sich dem Willen des Volkes zu widersetzen", sagte Montazeri.

​​Nachdem er sich in den ersten Jahren nach seiner Absetzung auf die Lehre konzentriert hatte, mischte er sich seit Mitte der 1990er Jahre wieder verstärkt in die Politik ein. Seine Kritik, die sich zunächst an der Praxis der Politik entzündet hatte, richtete sich zunehmend gegen das System selbst. Zur offenen Konfrontation kam es, als er sich nach der Wahl Mohammad Khatamis im Mai 1997 in aller Klarheit zu dessen Reformpolitik bekannte.

In einer Rede vor Religionsstudenten in der Gelehrtenstadt Qom im November 1997 griff er Khamenei persönlich dafür an, sich religiöse Autorität anmaßen und die religiösen Seminare in Qom kontrollieren zu wollen. Die Reaktion auf diesen Angriff ließ nicht auf sich warten: Sein Büro wurde verwüstet, sein Hausarrest verschärft und mehrere seiner Schüler, darunter auch Mohsen Kadivar, zu Haftstrafen verurteilt.

Das Ansehen Montazeris konnte dies freilich nicht beschädigen. Vielmehr brachte es seiner Forderung nach einer Reform des Systems zusätzliche Aufmerksamkeit. Seine Ideen formulierte er in mehreren Texten, die er auf seiner Internetseite veröffentlichte. Allerdings verschlechterte sich sein Gesundheitszustand so, dass er 2004 auf die Bitte einer Gruppe von Abgeordneten aus dem Hausarrest entlassen wurde.

Forderung nach Aufklärung der Wahlfälschungen

Welche Bedeutung er aber noch immer besitzt, zeigen seine Erklärungen der vergangenen Wochen. Bereits wenige Tage nach der Wahl vom 12. Juni kritisierte Montazeri das Ergebnis, "das keiner bei gesundem Verstand akzeptieren kann".

Er forderte, die Fälschung aufzuklären, von der Gewalt abzulassen und auch oppositionelle Kräfte an der Macht zu beteiligen, da sonst das System und der Islam weiter an Ansehen verlieren würden.

In einer folgenden Erklärung warf er dem Regime vor, mit der Unterdrückung der Proteste gegen alle Prinzipien des Islam verstoßen und sich die Methoden des Schahregimes zu eigen gemacht zu haben.

Er schloss: "Wenn sich die Edlen heute nicht in Ruhe versammeln und ihren Wunsch nach Gerechtigkeit diskutieren können, sondern gedemütigt und unterdrückt werden, werden die Schwierigkeiten eine Form annehmen, dass es die Grundlagen jeder Regierung, so mächtig sie auch sein mag, erschüttert."

Der Satz kann als Warnung, aber auch als Drohung verstanden werden.

Urs Sartowicz

© Qantara.de 2009

Qantara.de

Hassan Yousefi Eshkevari
Die Wahl im Iran ist ungültig
Nach Auffassung des renommierten iranischen Geistlichen Hassan Yousefi Eshkevari ist das umstrittene Ergebnis der Präsidentenwahl vor dem islamischen Recht und den religiösen Grundsätzen der Gerechtigkeit nicht zu rechtfertigen.

Porträt Mir Hussein Mussawi
Reformer ohne Referenzen
Mir Hussein Mussawi ist in Iran zum Volkshelden der Opposition geworden. Darauf hat in seinem politischen Leben allerdings bislang wenig hingedeutet. Einzelheiten von Rudolph Chimelli

Mohsen Kadivar
Anpassung an zeitgemäße Lesarten des Islam
Ist das islamische Recht mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar? Einer der bekanntesten Reformer der iranischen Geistlichkeit weiß hierauf Antwort und fordert damit die islamische Orthodoxie heraus. Der Journalist Bahman Nirumand berichtet über einen progressiven wie unbequemen Reformtheologen.