Zwischen allen Stühlen

Angesichts der großen Meinungsunterschiede zwischen der Türkei und dem Iran im Umgang mit dem Regime in Syrien und dem "Islamischen Staat", werden die im Nahen Osten lebenden Kurden immer mehr zum Spielball der widerstreitenden Interessen beider Regionalmächte. Aus Istanbul berichtet Dorian Jones.

Von Dorian Jones

Bislang ist der Streit zwischen dem Iran und der Türkei über die Einnahmen aus dem Lastwagentransfer das einzige sichtbare Zeichen für die gewachsenen Spannungen beider Länder. Dennoch drohen sie inzwischen in eine der schwersten Krisen im bilateralen Verhältnis beider Staaten umzuschlagen. "Der Iran betrachtet die Türkei gegenwärtig als großes Problem", meint dazu Professorin Nuray Mert von der Universität Istanbul. "Seit der Herrschaft der Osmanen fanden Iraner und Türken immer einen Modus Vivendi, doch nun scheint das Thema Syrien beide Länder endgültig zu entzweien."

Die Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit Syrien sind gravierend, da Teheran noch immer der stärkste Rückhalt des Regimes von Baschar al-Assad ist, während die Türkei alles daran setzt, die syrische Regierung zu stürzen, auch durch die Unterstützung des bewaffneten Widerstandes im Land.

Den Grund für die gewachsene Kluft sieht die Führung in Teheran sonderbarerweise in der Religion und in dem sunnitisch ausgerichteten Islamismus der türkischen Regierung begründet. "Die Iraner sagen, sie würden eine säkulare Regierung in der Türkei bevorzugen, da sich dadurch wenigstens nicht die Spannungen zwischen den Sunniten und Schiiten verstärken würden", erklärte Professorin Mert nach ihrem jüngsten Besuch in Teheran. "Denn die entscheidende Bedrohung, die für die Iraner von der Türkei ausgeht, besteht eben in dieser pointiert sunnitischen Orientierung, die sie als sehr feindlich gegenüber den Schiiten in der Region ansieht und die sich damit direkt gegen die iranischen Verbündeten und gegen den iranischen Einfluss richtet."

Die Kurden als Spielball der Regionalmächte

Die Spannungen zwischen der Türkei und dem Iran könnten die Kurden – die weltweit größte Ethnie ohne eigenen Staat, verteilt auf die Staatsgrenzen Irans, Iraks, Syriens und der Türkei – einmal mehr zum Spielball der Interessen anderer Mächte in der Region machen.

Bei Demonstration in Diyarbakir am 7. Oktober 2014 fordern Kurden vom Westen mehr Unterstützung gegen die IS Miliz im Irak und Syrien; Foto: Getty Images/Ilyas Akengin
Kurden protestieren in Diyarbakir am 7. Oktober 2014. Die Entwicklungen im Irak und in Syrien stellen die Annäherung zwischen der Türkei und den Kurden unter eine schwere Belastungsprobe. „Die Angriffe des Islamischen Staates gegen die irakischen Kurden vom August dieses Jahres verdeutlichen jedoch, wie fragil diese Beziehung in Wahrheit ist“, schreibt Dorian Jones.

Seit drei Jahrzehnten kämpft die Kurdische Arbeiterpartei, kurz PKK, einen ständig neu aufflammenden Krieg gegen den türkischen Staat. "Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Führung in Teheran die türkischen Kurden unterstützt, obwohl der Iran gleichzeitig gegen die separatistischen Kurden im eigenen Land vorgeht", behauptet der außenpolitische Kolumnist Semih Idiz von der türkischen Tageszeitung Taraf. "Irans Machthaber sind davon überzeugt, dass die türkischen Kurden eine größere Bedrohung für die Türkei darstellen, als die iranischen Kurden für sie selbst."

Diese Anschuldigen erhielten neue Nahrung im Zuge der Spannungen zwischen der Türkei und dem Iran, die sich seit dem Bürgerkrieg in Syrien verstärkten. Im Juli 2012 startete die PKK einen größeren Überraschungsangriff in der im Südosten der Türkei gelegenen Garnisonsstadt Semdinli. Angeblich hätten die Rebellen deshalb die türkische Armee so unvorbereitet attackieren können, weil sie die Grenze vom benachbarten Iran her überschritten haben. Der Angriff stellte einen neuerlichen Höhepunkt des bewaffneten Kampfes der PKK dar, der mit dem Beginn der Unterstützungsaktionen Ankaras für die syrische Opposition gegen Assad zeitlich zusammenfiel. Kurz nach dem Angriff auf Semdinli leitete Ankara den Friedensprozess ein, der vor allem Gespräche mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan beinhaltete und der im März 2013 schließlich in einen Waffenstillstand mündete.

Der gegenwärtige Friedensprozess mit den Kurden leidet jedoch bis heute unter den gegenseitigen Schuldzuweisungen der rivalisierenden Akteure. "Ich bin sicher, dass iranische Agenten in der ganzen Türkei unterwegs sind, um für Unruhe zu sorgen", warnte unlängst Soli Özel, Experte für internationale Beziehungen an der Kadir Has Universität in Istanbul. Und in Diyarbakir erklärte ein ranghohes kurdisches Mitglied der regierenden AKP, der anonym bleiben will, dass Teheran angeblich die Friedensgespräche zwischen Ankara und den Kurden Anfang dieses Jahres sabotieren wollte, indem man der im benachbarten Irak befindlichen militärischen Führung der PKK Waffen anbot. Dies habe die PKK jedoch abgelehnt.

Neue Allianz mit Washington

Doch vielleicht bahnt sich schon bald ein besseres Angebot für die PKK an: Die militärische Ausrüstung, mit der die USA im Oktober die PYD in der belagerten Stadt Kobane im Norden Syriens aus der Luft versorgte, spricht deutlich für eine neue Allianz der Kurden mit Washington. Die PYD ist eine eng mit der PKK verbundene Kurden-Organisation.

"Die USA engagiert sich wieder in der Region, ihre tatsächlichen Alliierten sind  die PYD und die PKK. Erstunlich, zumal doch die PKK bis heute auf der US-amerikanischen Terrorliste steht", meint der türkische Schriftsteller Kadri Gürsel, der mit der Kurdenfrage gut vertraut ist. "Fakt ist natürlich, dass die PKK und die PYD die einzigen säkularen Kräfte sind, die sich dem "Islamischen Staat" in Syrien widersetzen.“

Washington hat denn auch bestätigt, dass es im Oktober erstmals direkte Gespräche mit der PYD gab. Eine Folge hiervon ist, dass sich der Einfluss Teherans verringert, zumindest kurzfristig. "Wenn die USA Teil der Gleichung wird, spielen die Kurden sofort eine weitaus geringere Rolle, im Vergleich zum Iran. Es hängt also alles von den USA ab und davon, wie weit das Engagement der Amerikaner reichen wird", so die Einschätzung Gürsels.

Die alte Weisheit, nach der sich im Krieg die seltsamsten Allianzen bilden können, bewahrheitet sich gegenwärtig wohl in dem von den USA geführten Krieg gegen den IS einmal mehr. Dabei kann es sogar durchaus im Sinne der Islamischen Republik sein, dass sich Washington der PYD und de facto auch der PKK annähert - ist man sich dort doch sehr bewusst, dass dies der türkischen Regierung ein Dorn im Auge sein muss, weil es dieser ihre eigene Isolation noch deutlicher vor Augen führt.

Britische Truppen bei der Ausbildung von kurdischen Peshmerga-Kämpfern; Foto: Sebastian Meyer
Neben den USA beliefern auch Großbritannien und Deutschland die Kurden mit Waffen. So werden hier kurdische Peshmerga-Kämpfer von britischen Soldaten an den neuen Maschinengewehren ausgebildet.

Außerdem wird die Führung in Teheran nicht riskieren, die ersten zaghaften Zeichen der Annäherung an den Westen und die Beendigung ihrer jahrzehntelange Isolation unnötig zu gefährden. "Der Iran verbessert sein Image im Westen, indem das Land  kooperiert; zumal der Iran bereits seit einiger Zeit vor dem radikalen sunnitischen Islam gewarnt hat, was seine Glaubwürdigkeit zweifellos erhöht. Deshalb denke ich, dass der Iran erst einmal abwarten wird, was mit der PKK geschieht. Was aber mit den irakischen Kurden passieren wird, ist eine ganz andere Frage", meint Gürsel.

Fragile Aussöhnung zwischen der Türkei und den Kurden

Die Veränderungen in den Beziehungen der Türkei zur benachbarten, halb-autonomen Kurdenregion im Norden des Irak wird von der regierenden AKP als einer ihrer größten diplomatischen Erfolge gefeiert. Während Irak-Kurdistan von Seiten Ankaras früher mit offener Feindschaft begegnet wurde, ist die Kurdenregion nicht nur ein wichtiger Handelspartner geworden, beide Seiten sprechen inzwischen auch von einer längerfristigen strategischen Partnerschaft. Eine solche wird von vielen Experten geradezu als ideale Partnerschaft betrachtet: auf der einen Seite steht die Türkei mit ihrer schlagkräftigen Armee und auf der anderen Seite Irak-Kurdistan mit seinen Rohstoffvorkommen, seinen Märkten und der Funktion als Pufferzone der Stabilität inmitten einer ansonsten chaotischen Region.

Die Angriffe des "Islamischen Staates" gegen die irakischen Kurden vom August dieses Jahres verdeutlichen jedoch, wie fragil diese Beziehung in Wahrheit ist. "Als die irakischen Kurden die Türkei um Hilfe baten, war alles, was sie zu hören bekamen: 'Wir würden euch gerne helfen, aber leider hält der IS 49 unserer Landsleute als Geiseln fest'", berichtet die außenpolitische Kolumnistin  Asli Aydintasbas von der türkischen Tageszeitung Milliyet. "Dies ist eine strategische Allianz, die bereits ihren ersten Härtetest nicht bestanden hat; deshalb kann man es wohl kaum als strategische Allianz bezeichnen."

Die Führung in Teheran zögerte keinen Moment und ergriff die Chance, die sich dadurch bot: "Der Iran war zur Stelle und bot Hilfe an, worin auch immer diese bestehen solle", fährt Aydintasbas fort. "Sie schickten Bodentruppen. Und nicht nur das: Die Tatsache, dass sogar Qassem Suleimani, Befehlshaber der iranischen Eliteeinheit Al-Quds-Brigaden, vor Ort war und Seite an Seite mit den Kurden kämpfte, ist gar nicht überzubewerten. Diese Episode bedeutet, dass mit dem Iran wieder zu rechnen ist."

Ein anderer bedeutender Faktor ist, so Professorin Mert, die internationale Reaktion auf die Machtdemonstration Teherans: "Der Iran leistete den irakischen Kurden militärische Hilfe, was noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wäre. Und dass die westlichen Staaten sie dabei gewähren ließen, konnte nur als stilles Einverständnis verstanden werden. Auch den syrischen Kurden lässt der Iran militärische Hilfe zukommen. Besonders die Unterstützung der irakischen Kurden sagt den Iranern zu, wissen sie doch, dass sie damit ein Gegengewicht zum türkischen Einfluss schaffen können."

Die Kurden im Nahen Osten entwickeln sich somit immer mehr zu einem Brennpunkt, einer sich verstärkenden Rivalität zwischen Teheran und Ankara. Wie weit sich diese Rivalität jedoch noch ausweiten wird, hängt vor allem davon ab, wie und in welchem Umfang sich Washington in der Region engagieren wird. Dann wird man auch erst erfahren, welche Rolle den Kurden in diesem Szenario künftig noch zukommen wird.

Dorian Jones

© Qantara.de 2014

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol