Faire Handelspolitik zur Bekämpfung von Fluchtursachen

Die Bundesregierung will Flucht- und Migrationsursachen unter anderem durch faire Handelsverträge mit den Herkunftsländern bekämpfen. Dies setzt aber ein Umdenken der EU voraus, wie die Erfahrungen mit Nordafrika zeigen. Von Nassir Djafari

Von Nassir Djafari

Die meisten Migranten und Flüchtlinge, die nach Europa kommen, stammen aus Ländern, deren wichtigster Handelspartner die Europäische Union (EU) ist. Der Warenaustausch mit Europa beeinflusst die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung in den Krisenländern und damit auch die Umstände, die Menschen veranlassen, ihre Heimat zu verlassen.

Nordafrika spielt hierbei eine herausragende Rolle, nicht nur als Ursprungs- und Transitgebiet, sondern auch, weil die EU auf fast 50 Jahre bilaterale Präferenzabkommen mit den Ländern der Region zurückblickt.

Siegeszug der europäischen Industriegüter

Neuere Untersuchungen zeigen, dass sich der Freihandel mit der EU zum Nachteil Nordafrikas ausgewirkt hat. Mit dem Abbau von Handelsbarrieren eroberten Industriegüter aus der EU die Märkte Nordafrikas und verdrängten die weniger wettbewerbsfähigen regionalen Anbieter. Die Folge war der Rückgang der Produktion und die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Maßgeblich für diese Entwicklung war die Neuordnung der Handelsbeziehungen im Rahmen der 1995 begründeten Europa-Mittelmeer-Partnerschaft (EMP).

Die in den 1970er Jahren geschlossenen Kooperationsverträge wurden im Rahmen der EMP durch umfassendere Assoziierungsabkommen abgelöst, mit denen der bis dahin geltende Schutz für die Industrie der Partnerländer wegfiel. Die alten Verträge hatten den Nordafrikanern einerseits freien Zugang zum europäischen Markt gewährt, andererseits jedoch erlaubt, Zölle zu erheben und damit ihre eigene Wirtschaft zu schützen. Mit der EMP wurden die Zollschranken innerhalb von zwölf Jahren nach Vertragsschluss aufgehoben.

Symbolbild Fahnen der EU und Tunesiens; Foto: picture-alliance/dpa
Wirtschaftliche Kooperation zum beiderseitigen Nutzen: "Die EU könnte mit einer Handelspolitik, die weniger ambitiös ist, dafür aber die Interessen der Partnerländer stärker berücksichtigt, einen signifikanten Beitrag zur Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen leisten. Für die Bevölkerung würden daraus neue Perspektiven im eigenen Land erwachsen", meint Nassir Djafari.

Der Agrarsektor hingegen wurde nur zögerlich geöffnet. Es gab wenige Handelserleichterungen, und auf eine Reihe von Erzeugnissen wie Obst oder Fisch erhebt die EU weiterhin hohe Zölle. Zugleich verfügen europäische Landwirte dank der EU-Subventionen über Wettbewerbsvorteile gegenüber den Produzenten in Nordafrika.

Die EU will nun mit dem "Deep and Comprehensive Free Trade Agreement (DCFTA)" den Freihandel mit der Region weiter ausbauen und nahm bisher Verhandlungen mit Ägypten, Marokko und Tunesien auf. Im Unterschied zu den bisherigen Assoziierungsabkommen sollen auch der Agrarhandel, Dienstleistungen und ausländische Direktinvestitionen liberalisiert werden.

Darüber hinaus ist die Harmonisierung der Beschaffungsregeln und Qualitätsstandards vorgesehen, wobei die Partnerländer die Bestimmungen der EU übernehmen sollen. Dies setzt umfassende Reformen voraus, wofür die EU technische Hilfe zusagt.

Im Agrarsektor soll die Liberalisierung erst nach einer Übergangszeit erfolgen. So ist die EU bereit, ihren Markt weitgehend zu öffnen, räumt dem Partnerland aber eine Frist von bis zu zehn Jahren ein, bis es seine Zollschranken aufhebt.

Zu kurze Fristen

Aufgegriffene afrikanische Flüchtlinge in Libyen; Foto: picture-alliance/AP
Fluchtursachen bekämpfen – aber wie? Gegenwärtig will Deutschland die afrikanische Länder mit einem "Marshallplan" wirtschaftlich stärken. Die Menschen sollen besser leben und letztlich nicht nach Europa auswandern, Rückkehrern soll die Heimat attraktiv werden. So sollen etwa deutsche Firmen investieren und in Afrika Jobs und Ausbildungsplätze schaffen. Doch Migrationsexperten sehen die Maßnahmen kritisch, sie betrachten sie als eine Art Symbolpolitik, da die Bereitschaft von Firmen zu Privatinvestitionen in Afrika sehr gering sei.

Die Vorzugsbehandlung der Partnerländer während einer Übergangszeit, in der sie sich auf den Freihandel vorbereiten, ist zwar grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings haben sich derartige Fristen beispielsweise in der marokkanischen Textilbranche als zu kurz erwiesen, um den Rückstand gegenüber der europäischen Konkurrenz auszugleichen. Angesichts des Entwicklungsgefälles sowie des bisher geringen Reformfortschritts ist es schwer vorauszusagen, wie lange der Aufholprozess dauert.

Selbstverständlich kommen die nordafrikanischen Länder nicht umhin, sich langfristig dem Weltmarkt zu öffnen. Aber anstelle starrer zeitlicher Vorgaben sollte die Dauer des Importschutzes vom Grad der Wettbewerbsfähigkeit abhängig gemacht werden. Geschieht dies nicht, kann es zur Verdrängung der regionalen Betriebe führen und zu mehr Arbeitslosen.

Und schließlich führt die Komplexität des DCFTA, insbesondere die geforderte Einführung von EU-Normen und Standards, an der Realität der nordafrikanischen Länder vorbei. Sie verfügen über keine EU-Beitrittsperspektive, die einen derartigen Reformdruck rechtfertigen würde. Ihre Regierungen haben bereits alle Hände voll zu tun, eine weitere Zuspitzung der sozialen Spannungen und die Erosion der staatlichen Ordnung zu vermeiden.

Die EU könnte mit einer Handelspolitik, die weniger ambitiös ist, dafür aber die Interessen der Partnerländer stärker berücksichtigt, einen signifikanten Beitrag zur Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen leisten. Für die Bevölkerung würden daraus neue Perspektiven im eigenen Land erwachsen.

Nassir Djafari

© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2018

Nassir Djafari ist Ökonom und freier Autor.