Das Ende aller Hoffnung

Der Arabische Frühling hat sich letztlich als Illusion erwiesen. Der Grund: Die Freiheitsbewegungen standen zu vielen Feinden gegenüber, die darauf abzielten, die Revolutionen zunichte zu machen und die Bestrebungen der Völker der Region nach mehr Demokratie vereiteln. Ein Essay des syrischen Dissidenten Akram al-Bunni

Von Akram al-Bunni

Dass die tyrannischen Regime selbst sich als allererste gegen die Parolen von Freiheit, Gerechtigkeit und Würde stellten, war zu erwarten gewesen. Manche Regierungen wollten einer echten Veränderung auch dadurch den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie Zugeständnisse und Reformen anboten.

Andere Regime scherten sich erst gar nicht um politische Lösungen und setzten ohne moralische oder menschliche Skrupel jedes Mittel ein, um die Volksbewegungen zu zerschlagen – sei es durch nackte, entfesselte Repression, auch wenn dies zahllose Tote zur Folge hatte, das Land dabei zerstört wurde und zerfiel oder man es ausländischen Kräften überließ, sei es durch die Anstachelung konfessioneller oder ethnischer Konflikte, um die Aufstände in eine andere Richtung zu lenken, unter Zuhilfenahme von Unterdrückung und Korruption, Hauptsache die Herrschenden blieben an der Macht und mussten keine Privilegien abgeben. Oder mit der Behauptung, für die Proteste gebe es keine politischen Gründe und überhaupt sei alles nur eine koloniale Verschwörung, um das Potenzial und die Ressourcen der Region auszubeuten.

Wie in unserer islamischen Kultur üblich, ergänzten sich politische Islamisten und extreme Dschihadisten dabei, den Arabischen Frühling abzuwürgen. Die ersteren hatten ihre eigenen Erfahrungen mit Staatswillkür und stellten sich daher äußerlich ebenfalls gegen die Tyrannei der alten Regime. So konnten sie auf den Protestzug mit aufspringen und schließlich teilweise selbst regieren, nur um sogleich ihre eigenen Forderungen nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wieder einzukassieren (Beispiel Ägypten).

Krankes politisches Selbstverständnis

Sie zeigten damit ihr krankes, monopolartiges politisches Selbstverständnis, mit dem sie eine Diktatur in neuem Gewand zu reproduzieren versuchten.

IS-Miliz im syrischen Raqqa; Foto: picture-alliance/AP
Radikal, demokratiefeindlich, brutal und religiös verblendet: "Politische Islamisten und extreme Dschihadisten ergänzten sich dabei, den Arabischen Frühling abzuwürgen", schreibt Akram al-Bunni.

Die Dschihadisten dagegen freuten sich über die entfesselte konfessionelle Gewalt im Irak, in Syrien oder im Jemen, angesichts derer sie ihren flachen Diskurs fortführen konnten, der jedem religiösen Glauben Hohn spottet, dessen "Kalifat" keinen Raum für Menschenrechte, ein erfülltes Leben und Pluralität lässt und in dem Verstand und Denken ebenso verpönt sind, wie das öffentliche Abschlachten von wem auch immer zur verdienstvollen Tat erklärt wird.

Zu den Besonderheiten unserer Region gehört auch, dass auch Israel das Schicksal des Arabischen Frühlings mitbestimmt, denn der Westen hört genau hin, wenn Israel etwas sagt, und echte Demokratien in der Nachbarschaft zu haben, lag nicht wirklich im israelischen Interesse.

Oder fürchtet man sich in Tel Aviv etwa nicht vor einem wahrhaft freien arabischen Volk, das wirtschaftlich, politisch und militärisch initiativ wird? Würde dies nicht zumindest das Image gefährden, das Israel sich selbst gibt und mit dem es die Weltöffentlichkeit umwirbt, als dem angeblich einzigen freien Land in einer Wüste der Tyrannei? Und hat die Erfahrung Israel nicht zudem gelehrt, dass Verhandlungen mit korrupten Diktatoren, die ihren Bevölkerungen die Luft zum Atmen nehmen und die eigenen nationalen Ressourcen verschwenden, der erfolgversprechendere Weg ist?

Die Regime als Feinde des Wandels

Aber am klarsten wird das Bild, wenn man die Komplizenschaft der meisten arabischen Regime gegen den Wind der Veränderung in Betracht zieht. Implizit waren sich alle Staatsführer darin einig, dass man vor den Konsequenzen eines erfolgreichen demokratischen Wandels für die Gesellschaften der Region auf der Hut sein müsse.

Der frühere ägyptische Präsident Hosni Mubarak; Foto: AP
Arabsiche Despoten als Widersacher des demokratischen Wandels: "Implizit waren sich alle Staatsführer darin einig, dass man vor den Konsequenzen eines erfolgreichen demokratischen Wandels für die Gesellschaften der Region auf der Hut sein müsse."

Selbst die westlichen Staaten schienen durch den Arabischen Frühling in Verlegenheit zu geraten – allen Beteuerungen zum Trotz, man unterstütze Demokratie und Menschenrechte. Vielleicht weil man nach der vorhergehenden Begeisterung für das Projekt "Großnahost" enttäuscht war über das magere Ergebnis bei der Terrorbekämpfung oder weil man sich mehr von der Option erhofft hatte, mehr politische Freiheit zuzulassen und den Extremisten den Boden zu entziehen, indem man moderateren Islamisten den Weg ebnet.

Oder weil eine Kooperation mit tyrannischen Regimen als der sicherere Weg erschien, um die eigenen Interessen zu schützen – was sich gerade heute zeigt, wo der Westen angesichts zunehmender Konflikte um Einfluss und Macht immer mehr Trümpfe ausspielen muss, um seinen Gegnern entgegenzutreten.

Mit zweierlei Maß

Die Voranstellung eigener Interessen gegenüber allgemein gültigen Prinzipien und Werten ist eine Politik, die der Westen immer wieder gewissenlos praktiziert. Am deutlichsten zeigt sich dies daran, wie gegensätzlich man mit der libyschen und der syrischen Revolution verfuhr. Trotz der dramatischen Lage in Syrien mit all den Toten, der Zerstörung und den Vertreibungen schaute der Westen hier nur zu. Denn Syrien ist arm und kostspielig zugleich, und man sieht ja, wie der brutale Krieg dort alle Konfliktparteien ausbluten lässt, womöglich bis der letzte Syrer tot ist!

Mitglieder der Bewegung 6. April demonstrieren in Kairo; Foto: Reuters
Desillusioniert, verfolgt und im Stich gelassen: "Die Bewegung des Arabischen Frühlings sah sich einsam und nackt tyrannischen Regimen gegenüber, deren Gewalt keine Grenzen kannte."

Doch in Libyen hatte man es mit der direkten militärischen Intervention ganz eilig, denn dort versprach man sich die Kontrolle und Aufteilung enormer Erdölressourcen – auch auf die Gefahr hin, das Land in einen Krieg zu reißen, durch den es in Regionen und feudale Fürstentümer zerfällt.

Tatsache ist, dass kein Volk der Welt, das nach Freiheit und Demokratie strebte, sich jemals so vielen Feinden gegenübersah wie heute die Völker der arabischen Welt, weder in Osteuropa noch in Lateinamerika oder in Afrika. Die Bewegung des Arabischen Frühlings sah sich einsam und nackt tyrannischen Regimen gegenüber, deren Gewalt keine Grenzen kannte, sowie islamistischen und extremistischen Gruppierungen, die keine Mühen scheuten, der Bewegung ihre Hoffnungen zu rauben. Dies marginalisierte sie in der Folge soweit, dass sie keine politische Alternative mehr darstellte.

Hinzu kam eine regionale und arabische Komplizenschaft, die darauf abzielte, die zarten Knospen dieses Frühlings zu zertreten und jede demokratische Dynamik abzuwürgen. Dabei konnte man vom Zögern und von der Passivität der internationalen Staatengemeinschaft ausgehen. Es schien, als sagten die Herrschenden alle dasselbe: Wir warnen Euch vor dem, was Ihr möglicherweise erreichen werdet, wenn Ihr versucht, über Euer Schicksal und Eure Ressourcen selbst zu bestimmen! Ja, sie warnten die Menschen davor, von Freiheit und Würde zu träumen und eine Demokratie zu errichten, mit der sie sich der Tyrannei entledigen könnten.

Doch noch schlimmer als das ist, dass diese zutiefst egoistischen und interessengeleiteten Kräfte die Katastrophen, die Opfer und die Zerstörung in manchen Ländern des Arabischen Frühlings dazu benutzen, die Menschen dazu zu bringen zu bereuen, jemals gegen ihre Unterdrücker auf die Straße gegangen zu sein, um Jahrzehnte bitterer Tyrannei abzuschütteln.

Wird ein dermaßen rücksichtsloses Verhalten sein Ziel erreichen? Oder wird die Geschichte ein weiteres Mal bestätigen, dass ein Volk, das Freiheit und Würde will, trotz größter Opfer sein Ziel erreichen wird?

Akram al-Bunni

© Qantara.de 2014

Aus dem Arabischen von Günther Orth

Der syrische Dissident Akram al-Bunni ist prominenter Schriftsteller und Publizist. Als politischer Gefangener verbrachte er eine 16-jährige Haftstrafe im Hochsicherheitsgefängnis Tadmur. Sein Bruder ist der renommierte Menschenrechtswanwalt Anwar al-Bunni.