Zeit zum gemeinsamen Handeln

Der bekannte syrische Oppositionelle und Journalist Michel Kilo glaubt, dass nur noch eine nationale Allianz aller Rebellengruppen den Terror der Organisation "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" und des Assad-Regimes brechen kann.

Von Michel Kilo

Die Ereignisse der vergangenen drei Jahre haben gezeigt, dass keine der Konfliktparteien aus eigener Kraft in der Lage ist, die Gewaltherrschaft des Assad-Regimes zu brechen. Ebenso führt uns die aktuelle Konfrontation mit der Rebellengruppe "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (ISIS) vor Augen, dass auch die vom Terror dieser Extremisten ausgehende Gefahr nicht durch eine alleinige Strömung oder Partei überwunden werden kann – weder durch die demokratischen noch durch die islamistischen Kräfte.

Nur wenn sich diese beiden Kräfte zu einer schlagkräftigen politisch-militärischen Allianz formieren, könnten die Syrer ihr Land vom Assad-Regime befreien, was zunächst eine Beseitigung der terroristischen Bedrohung voraussetzen würde – hat das Regime doch von Anbeginn seiner Herrschaft die Terroristen als Instrument zur Unterdrückung der Bevölkerung benutzt, woran es bis jetzt in noch konsequenterer Form festhält. Dies belegen zahlreiche Dokumente, auf welche die Kämpfer der "Freien Syrischen Armee" in den Verstecken der ISIS an diversen Orten im Land gestoßen sind.

Kampf gegen die Dschihadisten

Unser Kampf gegen den ISIS wird weder von kurzer Dauer noch leicht sein, bedenkt man die umfangreiche Erfahrung der Terrorgruppe, seine organisatorische Verästelung auf internationaler Ebene und seine Durchdringung diverser Lebensbereiche der syrischen Gesellschaft.

Werbung für Rebellengruppe "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" in Rakka; Foto: Foto: Mezar Mater
Werbung für Rebellengruppe "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" in Rakka: ISIS entstand ursprünglich im Irak, nachdem die US-Truppen 2003 den Diktator Saddam Hussein gestürzt hatten. Die Terrorgruppe unter der Führung von Abu Omar al-Baghdadi nannte sich in ihren Anfangszeiten "Al-Qaida im Zweistromland", später dann "Islamischer Staat im Irak". Sie hat ihr Einflussgebiet inzwischen auf die syrischen Rebellengebiete ausgedehnt. Die ISIS-Lager in Syrien gelten inzwischen als zentrale Anlaufstelle für Dschihadisten aus aller Welt.

Außerdem verfügt ISIS über Finanzierungsquellen, sichere Zufluchtsorte und Verstecke und ist gut mit anderen, nach außen hin ungefährlich und neutral wirkenden Organisationen vernetzt. Nicht zuletzt ist der Organisation vor Ort gelungen, unterschiedliche Schichten der syrischen Gesellschaft systematisch zu durchdringen und der notleidenden, völlig verzweifelten Bevölkerung Hilfe anzubieten. Durch Autotransporte aus dem Ausland ist der ISIS mittlerweile auch in den Besitz moderner Waffentechnologie, umfangreicher Munition und Geld gekommen. Er setzt alles daran, die Revolution zu unterwandern, sich ihrer zu bemächtigen und dem Regime den Kopf der Revolution auf einem Silbertablett zu präsentieren.

Gleichzeitig verbreitet der ISIS jedoch den Anschein, als würde er die Revolution verteidigen und sie in die richtigen (also islamischen) Bahnen lenken. Unter diesem Deckmantel geriert der ISIS sich als revolutionäre Kraft, der das Recht zukommt, die anderen Kräfte zu vernichten, während er in Wirklichkeit nichts anderes als eine auf Seiten des Regimes kämpfende Konfliktpartei ist, die der Revolution in den Rücken fällt.

Gefangen in der Höhle des Terrors

Dass es ein langer Kampf werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Ein Blick in den Irak, wo der ISIS gemeinsam mit anderen Parteien operiert, offenbart die handfesten Schwierigkeiten der dortigen Regierung, mit diesen Gruppierungen fertig zu werden. Es verwundert nicht, dass die Amerikaner es vorgezogen haben, sich aus dieser verworrenen Höhle des Terrors, in die sich der Irak verwandelt hat, davonzumachen, bevor sie sich darin verfangen und das gleiche Schicksal wie die Russen in Afghanistan erleiden würden: eine Aufzehrung ihrer Kräfte und ein Ausbluten ihrer Jugend.

Die Anhänger des ISIS betrachten sich selbst als unbesiegbar. Ihr rasanter, ja stürmischer Vormarsch in dem von bewaffneten Rebellen und militärisch-politischen Gruppen nur so wimmelnden Syrien dürfte ihnen nur als weiterer Fingerzeig dienen, um sie im Glauben an ihre Einzigartigkeit zu bestärken – und daran, dass jede Schlacht, in die sie sich stürzen, schon im Voraus zu ihren Gunsten entschieden ist.

Wie soll man es sonst verstehen, dass der ISIS mittlerweile sowohl gegen sämtliche Organisationen des dschihadistischen Islams als auch gegen die Brigaden der Freien Syrischen Armee kämpft und dabei die grundlegendsten Prinzipien außer Acht lässt, wonach eine Seite niemals gegen sämtliche Feinde gleichzeitig losschlagen darf, vor allem wenn sie diesen zahlen- und waffenmäßig unterlegen ist.

"Alles oder nichts"

Rebellen der FSA in Homs; Foto: Reuters
Geschwächte Rebellen: Die Freie Syrische Armee (FSA) konnte den gesamten Widerstand gegen das Assad-Regime nicht bündeln und hat in den vergangenen Monaten zunehmend an Boden verloren.

Der ISIS führt derzeit einen Krieg nach dem Motto "alles oder nichts" – "totaler Sieg oder völliger Untergang". Er kämpft mit allen Mitteln, insbesondere solchen, die von anderen abgelehnt werden, weil dadurch Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Organisation hält an der Überzeugung fest, gegen alle und jeden in die Schlacht ziehen zu müssen, ganz im Sinne einer Gruppierung, deren Mitglieder sich wie Roboter ohne Verstand oder eigenen Willen zu Selbstmordanschlägen bereit erklären, in der Hoffnung, damit der Organisation den Sieg zu bescheren, und sei es um den Preis ihrer Selbstauslöschung.

Unser Kampf gegen den fundamentalistischen Terror wird nicht leicht sein, noch wird er schnelle Resultate erzielen. Wahrscheinlich wird er die Form einer kräftezehrenden militärischen und politischen Schlacht annehmen, in die diverse bewaffnete Gruppen innerhalb und außerhalb der Freien Syrischen Armee involviert sein werden.

Deshalb ist es dringend an der Zeit, die Differenzen unter diesen Gruppen, der Freien Syrischen Armee und der demokratischen Opposition, beiseite zu schieben. Die einzige Option ist der Zusammenschluss aller Kräfte – ob islamisch ausgerichtet oder nicht – zu einer breit angelegten und widerstandsfähigen Allianz. Andernfalls droht uns eine sichere Niederlage im Kampf gegen unsere miteinander verbündeten Feinde. Wir verspielen sonst jedwede Aussicht auf einen Sieg und geben dem Regime und dem ISIS die Waffen und die Munition zu unserer Niederlage regelrecht in die Hand.

Die Zeit ist reif

Die Zeit ist reif für die Gründung einer nationalen Allianz unter Einschluss der Islamisten; eine, die der fortschreitenden Zermürbung und Infiltrierung der Gesellschaft entgegentritt und verhindert, dass isolierte Gruppen vom ISIS militärisch und politisch liquidiert werden (wie im Falle der "Ahfad al-Rasul" und der "Asifat al-Shamal"-Brigaden).

Eine solche Allianz würde die syrische Zivilbevölkerung zusammenschweißen und sie in die Lage versetzen, die Lockrufe der Terroristen und deren vergifteten Geldsegen zu ignorieren. Der Revolution die Treue haltend, würde sie jedwede gesellschaftliche Brutstätte zerstören, in denen der ISIS oder andere in unser Land eindringende Terrororganisationen einen Nährboden für landesweite oder lokale Aktivitäten finden.

Die Bildung einer solchen Front ist alternativlos, nur sie kann unsere Position noch wirklich stärken. Erste konkrete Schritte auf dem Weg dorthin sollten so schnell wie möglich erfolgen, ausgehend von den wichtigen Anfangserfolgen, die von Widerstandsgruppen gegen den ISIS und das hinter ihm stehende Assad-Regime erzielt wurden. Daran müssen wir jetzt anknüpfen.

Michel Kilo

© Qantara.de 2014

Übersetzung aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Der syrische Dissident und Journalist Michel Kilo ist einer der Initiatoren der "Damaszener Erklärung" für eine demokratische Öffnung Syriens aus dem Jahr 2005. Ein Jahr darauf wurde er auf Anordnung des Assad-Regimes festgenommen und im Mai 2007 wegen "Verletzung des Nationalgefühls" zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Michel Kilo lebt heute in Beirut und schreibt regelmäßig für die libanesische Zeitung "An-Nahar".