Alltag in einem zerstörten Land

"Bitte bedienen Sie sich!": Ein Mann stellt für Bedürftige Lebensmittel bereit, ein Händler verkauft Parfüm, ein Student organisiert ein Radrennen: Zwischen Tod, Ruinen und Fluchtgedanken gibt es in Syrien starke Zeichen des Lebenswillens. Von Rasha Muhre

Von Rasha Muhrez

Der Duft von Apfeltabak und Kardamomkaffee zieht durch die Altstadtgassen. Touristen und Einheimische machen die Nacht zum Tag. Teenager tragen vor ihren Schulen lässig westliche Mode zur Schau, Frauen lassen in Beautysalons ihre Nägel machen. Das war Alltag in Damaskus bis zum März 2011.

Zwei Monate zuvor hatte der arabische Frühling mit Massenprotesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo begonnen. Die meisten Syrer waren der Ansicht, das schwappe zu ihnen nicht herüber. Ich war eine von ihnen.

Haben Sie schon mal nach einem sonnigen Tag die Tür geöffnet und wurden unerwartet von einem eiskalten Wind erfasst? So war es, als der Krieg in Syrien Einzug hielt. Wir waren paralysiert. Eine Woche lang wagten die Damaszener sich nicht auf die Straße. Das öffentliche Leben stand still. Kein Kind ging in die Schule, niemand zur Arbeit.

Heute, vier Jahre nach Kriegsausbruch sind ca. 200.000 Tote zu beklagen, 3,7 Millionen Syrer leben versprengt als Flüchtlinge in Libanon, der Türkei oder Jordanien; elf Millionen sind innerhalb ihres eigenen Landes auf der Flucht. Die Krankenhäuser von Homs bis Aleppo sind voll mit Kindern, die durch Granaten oder Bombensplitter einer der Kriegsparteien Arme oder Beine verloren. Die Diskussion "Gehen oder bleiben?" ist in den Familien Syriens längst allgegenwärtig geworden.

An die Zeit vor dem Krieg erinnern nur noch Fotografien. Für viele Syrer sind sie das Wertvollste, das sie noch besitzen. Das syrische Volk zeichnet Stolz und Würde aus. Selbst als Flüchtling im Zelt versuchen die Menschen, sich und ihre Kleidung peinlich zu pflegen. Abhängigkeit von anderen sind sie nicht gewohnt. Als die ersten Binnenflüchtlinge Schulen bezogen, standen die Frauen tagelang einfach nur da. Sie waren saubere Häuser gewohnt und für eine Großfamilie zu kochen. Plötzlich standen sie vor dem Nichts.

Die "richtige" Seite gibt es nicht

Assad-Porträt an einem Regierungsgebäude in der Innenstadt von Damaskus; Foto: Reuters
Außen glitzerten die Fassaden, doch hinten bröckelte bereits der Putz: Das Ein-Parteien-System der Baath-Partei, die fehlende Meinungsfreiheit und die ökonomische Unsicherheit schürten vor dem Ausbruch der Proteste gegen das Assad-Regime im Jahr 2011 den Unmut in Teilen der Bevölkerung.

Natürlich war nicht alles gut vor dem Krieg. Syriens dringend notwendig gewordene Wirtschaftsreformen blieben in weiten Teilen erfolglos. Der schwerfällige Staatsapparat, in dem jeder dritte Syrer beschäftigt war, und das korrupte Sozialsystem torpedierten die Reformen. Die Öffnung des Privatsektors brachte Arbeitsplätze für qualifizierte Syrer, der Großteil aber blieb ohne Job oder träumte weiterhin davon, Funktionär im Staatsdienst zu werden.

Über die fragile ökonomische Situation konnten auch die vielen neuen Cafés und Restaurants in den Altstädten nicht hinwegtäuschen. Außen glitzerten die Fassaden, doch hinten bröckelte bereits der Putz. Das Ein-Parteien-System der Baath-Partei, die fehlende Meinungsfreiheit schürten den Unmut in Teilen der Bevölkerung.

Doch dass es zum Krieg kommen würde, damit rechneten die meisten Syrer nicht. Heute interessiert Politik die meisten Syrer nur am Rande. Sie wollen überleben, und politische Aktivitäten sind lebensgefährlich. Die "richtige" Seite gibt es nicht. Die Regierung inhaftiert ihre Gegner, die Opposition lässt sie kidnappen.

Vorsicht und Umsicht lauten die Gebote der Stunde. Fußwege oder Autofahrten werden nur mit gutem Grund unternommen. Gesprächspartner, auch wenn es vermeintliche Freunde sind, werden argwöhnisch beäugt. Der Krieg hat auch den Charakter der Menschen verändert.

Würde bewahren mitten im Chaos

Obwohl die meisten Syrer die schrecklichen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern kennen, sehen viele für sich und ihre Familien keine andere Möglichkeit mehr als die Flucht. Täglich müssen Eltern abwägen, ob ihnen Bildung oder die Sicherheit ihrer Kinder mehr am Herzen liegt. Die Kriegsparteien machen auch vor den Kleinsten nicht halt. Vor Kurzem kamen in Damaskus bei einem Bombenanschlag auf eine Schule zwölf Kinder ums Leben, einige Monate davor 45 in Aleppo. Der Krieg hat den Kindern das Recht auf Leben genommen.

eine syrische Frau und ihr Sohn transportieren Kartons mit Lebensmitteln in der nordsyrischen Stadt Aleppo.
"Trotz der Minen, der Bomben, der Zerstörungen bleibt das Leben in Syrien nicht stehen. Die Menschen wollen leben. Im ganzen Land lassen sich Beispiele finden, durch die sich dieser Lebenswille auf ganz unterschiedliche Weise ausdrückt", schreibt Rasha Muhrez.

Junge Männer wiederum treibt es in die Flucht, weil sie dem Krieg nicht entkommen können. Es geht für sie mehr als für andere ums Sterben und ums Töten. Sie werden eingezogen. Ihre Namen erscheinen auf Listen, die dann an jedem Regierungs-Checkpoint im Land ausliegen. Ob es ihr Krieg ist oder nicht, ist völlig egal.

Doch trotz der Minen, der Bomben, der Zerstörungen bleibt das Leben in Syrien nicht stehen. Die Menschen wollen leben. Im ganzen Land lassen sich Beispiele finden, durch die sich dieser Lebenswille auf ganz unterschiedliche Weise ausdrückt. Als das frühere Wirtschaftszentrum Aleppo während der achtmonatigen Blockade von der Außenwelt abgeschnitten war, stellte ein Mann in seiner Nachbarschaft einen Kühlschrank auf.

Jeden Tag stellte er einen Teller mit Speisen hinein, die übrig geblieben waren. An den Kühlschrank klebte er einen Zettel: "Bitte bedienen Sie sich!" Bedürftige Nachbarn mussten so nicht würdelos betteln. Das Prinzip sprach sich herum, es wurde zur erfolgreichen Nachbarschaftshilfe, an der sich alle Bewohner des Viertels beteiligten.

Inmitten der Trümmer von Homs betreibt ein Mann einen kleinen Laden. Die Wände sind versehrt mit Einschusslöchern. Er verkauft Parfüm. Sein Laden gibt dem Leben im Krieg Normalität zurück, der Duft und der Luxus seinen Kundinnen ein Stück des Selbstwertgefühls, das der Krieg den Menschen nimmt.

Flüchtlingscamp Zaatari in Jordanien; Foto:
Entwurzelt und auf der Flucht: 3,7 Millionen Syrer leben versprengt als Flüchtlinge in Libanon, der Türkei oder Jordanien; elf Millionen sind innerhalb ihres eigenen Landes auf der Flucht.

Neulich haben Studenten in Damaskus über Facebook zu einer Rad-Rallye aufgerufen. Tatsächlich: Mehr als 1000 Menschen radelten mitten im Krieg durch Damaskus - ein Zeichen des Lebenswillens.

Aufgeben und gehen - eine Alternative?

Für diese Menschen ist es wichtig, weiterzumachen, zu leben. Fast jeder hat in diesem Krieg etwas verloren. Es gibt nur wenige Familien, die niemanden betrauern. Jeder geht mit der Situation anders um. Den einen hilft, mit aller Kraft eine Art von Alltag aufrechtzuerhalten. Menschen wie ich brauchen eine sinnvolle Aufgabe, die uns einen Grund gibt, jeden Tag weiterzumachen.

Als Nothilfekoordinatorin für die SOS-Kinderdörfer versuche ich, dafür zu sorgen, dass die Männer, Frauen und Kinder, die alles verloren haben, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern, Schulen, Kellern und Rohbauten hausen, mit lebensnotwendigen Dingen wie Winterjacken, Decken, Heizgeräten oder dringend notwendiger medizinischer Hilfe versorgt werden können.

Bei jedem Besuch einer Flüchtlingsfamilie sehe ich: Was wir tun, ist gut, aber es ist nie genug. Doch was wäre die Alternative? Aufgeben und gehen? Nach vier langen Jahren Leben in ständiger Angst kehrt langsam der Alltag nach Damaskus zurück.

Obwohl die Gefahr weder gebannt noch geringer geworden ist, gehen die Damaszener abends wieder aus. Der eiskalte Wind schlägt ihnen noch immer entgegen, sobald sie die Tür öffnen. Doch mittlerweile haben sie sich daran gewöhnt.

Rasha Muhrez

© Süddeutsche Zeitung 2014

Rasha Muhrez, 33, ist die Nothilfekoordinatorin der SOS-Kinderdörfer in Syrien. Derzeit betreut die Organisation noch 200 Kinder, die Einrichtung in Aleppo musste geschlossen werden.