Ein gesellschaftliches Tabu

Die anhaltende Diskriminierung von Atheisten in Ägypten ist vor allem auf die konservativen Traditionen des Landes und den Druck religiöser Vertreter der Al-Azhar und der koptischen Kirche zurückzuführen. Einzelheiten von Hakim Khatib

Von Hakim Khatib

Die religiöse Freiheit wird am Nil durch Gesetze und Politik geschützt. Doch diejenigen, die die klassischen Buchreligionen beleidigen, werden hart bestraft. Ausnahmen sind der Buddhismus und Hinduismus, wohl aber der Islam, das Christentum oder das Judentum. Laut Informationen der englischen Tageszeitung The Guardian verurteilen ägyptische Gerichte im Zeitraum von 2011 bis 2013 insgesamt 27 von 42 Personen, die wegen Missachtung oder Beleidigungen monotheistischer Religionen angeklagt waren.

Nach offizieller Lesart dürfen Ägyptens Bürger lediglich einer der drei monotheistischen Religionen (Islam, Christentum und Judentum) angehören. Laut offiziellen Statistiken setzt sich die Religionszugehörigkeit in Ägypten wie folgt zusammen: 90 bis 94 Prozent der Bürger sind sunnitische Muslime, etwa sechs bis zehn Prozent gehören der koptisch-christlichen Konfession an.

Über den Atheismus in der ägyptischen Gesellschaft erfährt man hingegen kaum etwas, nicht zuletzt deshalb, weil es zu diesem Thema bislang immer noch keine glaubwürdigen Untersuchungen gibt. Dies hängt zweifelsohne damit zusammen, dass Konfessionslosigkeit noch immer ein Tabuthema in Ägypten ist. Ja, staatliche Institutionen rufen gar zu einem neuen "Krieg gegen den Atheismus" auf.

In einem Bericht aus dem Jahr 2014 behauptete das "Al-Azhar-Zentrum für islamische Rechtsforschung" (Dar al-Ifta al-Misriyyah), in Ägypten gebe es lediglich 866 Atheisten – was bedeuten würde, dass der Anteil der Atheisten an der ägyptischen Bevölkerung bei nur 0,001 Prozent liegt. Während unklar ist, anhand welcher Methoden die Al-Azhar-"Wissenschaftler" diese Zahl ermittelten, ist die Diskriminierung von Atheisten im gesellschaftlichen Diskurs von Ägypten allgegenwärtig.

Schulterschluss zwischen Al-Azhar und koptischer Kirche

Die anhaltenden Diskriminierungskampagnen gehen insbesondere von der Al-Azhar und der koptischen Kirche aus. Seit 2014 arbeiten beide Institutionen zusammen, um den Atheismus zu bekämpfen und die "ägyptische Gesellschaft zu retten". Im gleichen Jahr rief die Regierung eine "nationale Kampagne" ins Leben, um der Verbreitung des Atheismus unter jungen Menschen Einhalt zu gebieten. Dazu stützte sie sich auf Aussagen von Psychologen, Soziologen und Politikwissenschaftlern.

Nemat Satti, Vorsitzender der zentralen "Behörde für Parlament und politische Bildung beim Ministerium für Jugend und Sport", erklärte 2014 gegenüber Shorouk News, das Phänomen des Atheismus sei unter Jugendlichen heute ebenso spürbar und verbreitet wie etwa sexuelle Belästigung,Vergewaltigung und religiöser Extremismus. Der Vergleich spricht für sich.

Mediale Diskriminierung

Die Diskriminierung gegen Atheisten lässt sich auch in den ägyptischen Medien beobachten, die keine neutrale Position beziehen. Ähnlich wie bei den Kampagnen der Regierungen und Religionsgemeinschaften werden Atheisten von Medienvertretern mitunter als "psychisch gestörte Personen" diffamiert, die medizinisch behandelt werden müssten.

Beispielsweise schloss vor Kurzem eine ägyptische Journalistin während ihres Programms Der Morgen in der Hauptstadt beim ägyptischen Fernsehsender "Hauptstadt-TV" (Al-Asima) einen Gast, der sich als Atheist zu bekennen gab, im Verlauf ihrer Sendung aus. Zwischen der ägyptischen Journalistin Rania Mahmoud Yasin, der Gastgeberin der Debatte über Atheismus, und ihrem atheistischen Gast Ahmed al-Harqan, der über "den Mangel an historischen Beweisen für die Existenz der Figur des Propheten Mohammed" sprach, war ein Streit ausgebrochen.

Rania Yasin unterbrach während des Gesprächs Al-Harqan und sagte schließlich: "Gehen Sie! Für Atheisten oder Ungläubige haben wir hier ohnehin keinen Platz! Wir haben Sie ohnehin nur geöaden, damit unsere Zuschauer vor Unglauben, Häresie und Atheismus gewarnt sind!"

Hamed Abdel-Samad; Foto: Deutsche Welle
Der 1972 als Sohn eines Imams in Ägypten geborene Hamed Abdel-Samad lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Nach der Veröffentlichung seines kritischen Buchs "Abschied vom Himmel" im Jahr 2009 wurde in Ägypten eine Fatwa gegen ihn ausgesprochen.

Stellt sich die Frage, warum eine ägyptische Journalistin eine Debatte über ein so heikles Thema moderiert, wenn sie von vornherein gar nicht bereit ist, die Positionen eines Atheisten anzuhören und den Studiogast mit einem Rausschmiss offen brüskiert.

Gezielte Angriffe gegen Atheisten

Von den zahlreichen Berichten über die Verfolgung von Atheisten in Ägypten werden hier einige beispielhafte Fälle aufgeführt, um zu zeigen, wie gezielt mit diesem Tabu umgegangen wird. Bis jetzt gibt es keine Belege dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Regierungen, deren jeweiligen politischen Präferenzen und der Anzahl von Angriffen auf Atheisten in Ägypten gibt.2014 wurde der 21-jährige Karim Ashraf Mohamed al-Banna wegen "Beleidigung des Islam" zu drei Jahren Haft verurteilt, nur weil er auf Facebook erklärt hatte, Atheist zu sein. Schockierenderweise hatte sein eigener Vater gegen ihn ausgesagt, er habe sich "extremistischen Ideen gegen den Islam" zugewandt.

Ein Jahr zuvor hatten ägyptische Kleriker – wie der Al-Azhar-Professor Mahmoud Shaaban, ein Mitglied von "Al-Gama'a al-Islamiya", Asem Abelmajed, und der salafistische Gelehrte Abu Ishaq al-Heweny – eine Fatwa gegen Hamed Abdel-Samad erlassen, da dieser ein Buch über den "islamischen Faschismus" geschrieben hatte. Abdel-Samad wurde als Häretiker angeklagt, zu seiner Ermordung wurde öffentlich aufgerufen. Auf Al-Hafez-TV erklärte Shaaban: "Nachdem er [Abdel-Samad] mit den Beweisen konfrontiert wurde, ist seine Tötung unter der Voraussetzung erlaubt, dass es die [ägyptische] Regierung unterlässt."

2012 wurde der ägyptische Blogger Alber Saber wegen Beleidigung des Islam zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er auf seiner Facebook-Seite den Trailer des YouTube-Videos Innocence of Muslims gepostet hatte. Zwar konnte die Staatsanwaltschaft den Trailer auf Sabers Facebook-Konto nicht finden. Stattdessen fand sich ein kurzes Video von ihm, in dem er die Führer und Institutionen der islamischen und koptischen Religion kritisierte. Daraufhin wurde er wegen Blasphemie angeklagt.

Al-Azhar-Moschee in Kairo; Foto: picture-alliance/ZB
Atheisten als Feinde der ägyptischen Gesellschaft: Die anhaltenden Diskriminierungskampagnen gehen insbesondere von der Al-Azhar und der koptischen Kirche aus. Menschenrechtler kritisieren ein zunehmend hartes Vorgehen der ägyptischen Justiz gegen sogenannte Atheisten. "Der ägyptische Staat muss sich an seine Verfassung halten und aufhören, Menschen wegen Atheismus zu verfolgen", erklärte die Organisation Human Rights Watch im Januar 2015.

Nachdem Saber schließlich inhaftiert wurde, "hetzte die Polizei die Gefangenen gegen Saber mit der Behauptung auf, er sei Atheist und habe den Propheten Mohammed beleidigt", wie im Bericht über nichtreligiöse Diskriminierung des Jahres 2012 mitgeteilt wurde. Daraufhin verletzte einer der Gefangenen Saber mit einer Rasierklinge.

In dem gleichen Bericht finden noch weiter Aktivitäten gegen Personen Erwähnung, die angeblich den Islam beleidigt haben –  darunter Makram Diab, Sekretärin einer christlichen Schule, die zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, und der 24-jährige Ayman Yusef Mansur, der für drei Jahre inhaftiert wurde.

Dies sind jedoch keine Präzedenzfälle. Bereits 2007 wurde der Blogger Abdel Kareem Soliman wegen angeblicher Beleidigung des Islam und des Präsidenten zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Ein weiterer Blogger, Kareem Amer, musste laut Informationen aus dem Bericht über nichtreligiöse Diskriminierung des Jahres 2012 für "Facebook-Einträge, die den Islam beleidigend" für drei Jahre hinter Gitter.

Atheismus ist in Ägypten bis heute ein gesellschaftliches Tabu, ihre Anhänger werden systematisch diskriminiert. Vor dem Hintergrund konservativer Traditionen sowie Restriktionen des staatlichen und religiösen Establishments wird Atheisten systematisch das Recht verweigert, sich an einer ernsthaften Debatte über ihre grundlegenden Rechte zu beteiligen.

Hakim Khatib

© Qantara.de 2016

Hakim Khatib ist Dozent für Journalismus, interkulturelle Kommunikation sowie Politik und Kultur des Nahen Ostens an der Fulda-Universität für Angewandte Wissenschaften und der Phillips-Universität Marburg. Sein Spezialgebiet ist die Integration der Religion in das politische Leben und politische Diskurse im Nahen Osten. Er ist Chefredakteur des Online-Journals "Mashreq Politics and Culture" (MPC Journal).

Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff