Ein Schritt vorwärts, zwei zurück?

Unter dem Druck der Straße ist Präsident Mursi der Opposition zwar einen Schritt entgegengekommen. Er zeigte sich bereit, auf seine erst Ende November eingeräumten Sondervollmachten zu verzichten. Doch das Misstrauen in das politische Gebaren der Islamisten ist groß. Einzelheiten von Matthias Sailer aus Kairo.

Von Matthias Sailer

Der von Präsident Mohammed Mursi angekündigte "Dialog" mit der Opposition wurde es nicht. Die meisten der gut 50 Teilnehmer an Mursis "Dialogtreffen" waren Islamisten. Denn die wichtigsten Oppositionsführer hatten den Termin boykottiert. Zu gering schätzten sie das Entgegenkommen des Präsidenten ein.

Stattdessen forderten sie erneut die Rücknahme von Mursis Ermächtigungsdekret, mindestens eine Verschiebung des Verfassungsreferendums und die Bildung einer neuen Verfassungsgebenden Versammlung. Bekommen haben sie nun die Rücknahme des alten und die Verkündung eines neuen Dekrets.

Laut dem neuen Dekret wird Mursi nun keine diktatorischen Befugnisse mehr haben, und seine Entscheidungen werden grundsätzlich wieder der Justiz unterliegen. Positiv bewertet wird auch, dass es in jedem Fall Wahlen geben wird. Wird die Verfassung angenommen, folgen Parlamentswahlen. Wird sie abgelehnt, wird eine Verfassungsgebende Versammlung durch das Volk gewählt.

Giftpille für die Opposition

Regierungssitzung im Präsidentenpalast am 8.12.2012; Foto: Reuters
Boykott statt Dialog: Die wichtigsten Oppositionsführer blieben aus Protest den Gesprächen fern, da die meisten der 50 Teilnehmer an Mursis "Dialogtrefffen" Islamisten waren. Von den bekannten Aktivisten nahm lediglich der Liberale Aiman Nour teil.

​​Die Giftpille für die Opposition bleibt jedoch das Festhalten an dem Verfassungsreferendum. Dieses Referendum war Mursis zentraler Grund für das ursprüngliche Ermächtigungsdekret.

Trotz seines Entgegenkommens, so scheint es, bleibt Mursi auf der Siegerseite im aktuellen Konflikt. Unter dem Druck des Militärs und den anhaltendern Straßenprotesten beweist er nun zwar einerseits Kompromissbereitschaft. Doch sein zentrales Anliegen bleibt davon unberührt. Ob die Opposition geeint bleibt und ihre Proteste fortsetzt, wird sich zeigen. Sie muss sich nun entscheiden, ob sie weiter die Totalkonfrontation mit Mursi will - oder am Referendum teilnimmt.

In jedem Fall hat sich der Graben zwischen Islamisten und Säkularen durch den aktuellen Konflikt erheblich vertieft. Die Gewalt bedeutete eine neue Qualität in dieser Auseinandersetzung. Die Ursachen dieser Entwicklung liegen tief: Großen Anteil an den jetzigen Ereignissen hat das Demokratieverständnis der Muslimbrüder. Die meisten ihrer Führungsmitglieder sehen Demokratie als eine Herrschaft der gewählten Mehrheit.

Abdel Moati Zaki Ibrahim, ein Funktionär der Muslimbrüder, beschreibt das so: "Ein echter Demokrat darf nur den demokratischen Spielregeln folgen. Demokratische Spielregeln bedeutet Wahlen und Entscheidung durch Wahlen."

Nach dieser Logik haben die Muslimbrüder das alleinige Sagen, sobald sie die absolute Mehrheit der Stimmen einer Wahl gewonnen haben. Die Politik der Muslimbrüder war daher nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen selten von Kompromissen mit den säkularen Parteien geprägt.

Dieses politische Verhalten ist im Nachrevolutions-Ägypten jedoch sehr gefährlich: Mursi hatte im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen gerade mal 51 Prozent der Stimmen erhalten. Und viele Ägypter hätten nie für den Muslimbruder Mursi gestimmt, wenn der Alternativkandidat nicht Mubaraks letzter Ministerpräsident Ahmed Schafik gewesen wäre.

Tiefes Misstrauen

Ägyptens Präsident Mohammed Mursi; Foto: AP
Furcht vor einem neuen autoritären Klima am Nil: Mursi hatte mit einer Verfassungserklärung am 22. November bestimmt, dass die Justiz nicht das Recht habe, die Umsetzung seiner Dekrete zu verhindern. Er sprach den Richtern außerdem das Recht ab, die von Islamisten dominierte Verfassungsgebende Versammlung aufzulösen.

​​Im ersten Wahlgang hatte sich sogar nur ein knappes Viertel der Wähler für ihn ausgesprochen. Mehr als zwei Drittel der Stimmen entfielen damals auf vier nicht-islamistische Kandidaten. Die Muslimbrüder argumentieren dennoch, dass die Islamisten und ihr Präsident durch die Wahlen die Legitimität hätten, nun über die Verfassung und damit das zukünftige Ägypten zu entscheiden.

Die aktuellen Proteste spiegeln die Problematik dieser Deutung des Wahlergebnisses. Die Aussagen der Demonstranten untermauern dies, zum Beispiel der etwa 35-jährige Walid: "Du kannst nicht sagen, wer hier Muslim oder Christ ist. Das ist Ägypten. Aber sie wollen daraus Iran machen. Wir werden es aber nicht hinnehmen, einen neuen Ayatollah Khomeini zu bekommen."

Es geht auch um verlorengegangenes Vertrauen in die Muslimbruderschaft. In den Augen der Opposition haben die Muslimbrüder seit der Revolution eine ganze Reihe gemachter Versprechen nicht eingehalten. Insbesondere die nicht repräsentative Verfassungsversammlung war eine große Enttäuschung für die Opposition. Auf der Höhe des Machtkampfes mit dem Militärrat hatte die Muslimbruderschaft zugesagt, sich um eine ausgewogenere Zusammensetzung der Versammlung zu bemühen.

Bis heute gab es jedoch hier keine Veränderungen. Auch die öffentliche Kommunikation der Muslimbrüder seit Ausbruch der Proteste hat das Klima nicht gerade verbessert. Mohamed Schahin, ein Elektroingenieur, der ebenfalls vor dem Präsidentenpalast demonstrierte, ist daher klar gegen Dialog mit Präsident Mursi und für weitere Demonstrationen: "Wir wollen nicht, dass sie mit ihm sprechen. Das Reden ist vorbei. Die Muslimbrüder haben uns und das Volk nach der Revolution betrogen."

Selbst wenn es zu dem Referendum kommen und die Verfassung angenommen werden würde: der Konflikt wird vorerst weiter schwelen.

Mattias Sailer

© Deutsche Welle 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de