Auf der Suche nach Montazeris Erben

Drei Jahre nach dem Tod des schiitischen Dissidenten Großayatollah Montazeri gibt es niemanden, der seine Rolle als geistliche Autorität der Reformbewegung übernehmen könnte. Viele kritische Kleriker sind seit der Niederschlagung der Proteste 2009 verstummt. Doch zugleich finden Bestrebungen zur Reform des islamischen Rechts zunehmend Zuspruch. Von Urs Sartowicz

Von Urs Sartowicz

Als vor drei Jahren Großayatollah Hossein-Ali Montazeri starb, verlor die Grüne Bewegung im Iran ihren spirituellen Mentor und ihren wichtigsten Fürsprecher in der schiitischen Geistlichkeit. Zu seiner Beisetzung am 20. Dezember 2009 in Irans theologischem Zentrum Qom strömten zehntausende Menschen herbei. Der Trauerzug von dem bescheidenen Haus, in dem er die letzten Jahrzehnte gelebt, gelehrt und auch mehrere Jahre unter Arrest verbracht hatte, zur Großen Moschee, geriet zu einer der letzten großen Demonstrationen der Grünen Bewegung.

Montazeri war im hohen Klerus nicht nur der schärfste Kritiker der Menschenrechtsverletzungen des Regimes, sondern auch der entschiedenste Befürworter einer Reform des Systems. Zwar hielt er bis zuletzt an der Doktrin der Herrschaft des Rechtsgelehrten fest, die er nach der Revolution 1979 mit in die Verfassung geschrieben hatte, doch sollte seiner Ansicht nach der Rechtsgelehrte vom Volk für ein begrenztes Mandat gewählt werden und nur eine spirituelle Aufsicht über die Regierung haben, nicht aber selbst politische Entscheidungen fällen.

Auch wenn er sich nie offen zur Demokratie bekannte, trat er mit Nachdruck dafür ein, dass das Volk sich über freie Parteien, freie Wahlen und eine freie Presse an der Politik beteiligen kann. Bis zuletzt entwickelte er seine Haltung weiter und erklärte wenige Jahre vor seinem Tod, dass Bahais die vollen Bürgerrechte erhalten sollten und Apostasie nicht mit dem Tod bestraft werden dürfe. Nach der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmadinedschads im Juni 2009 sprach er dem Regime in einer Erklärung jede Legitimität ab.

Von den alten Geistlichen sind keine Impulse zu erwarten

Ayatollah Yousef Sanei; Foto: © Ayatollah Yousef Sanei
Von der Teheraner Führung stigmatisiert und isoliert: Der prominente Geistliche Ayatollah Yousef Sanei aus Qom, ein Freund Montazeris, war bis 1983 Vorsitzender des einflussreichen iranischen Wächterrats, entwickelte sich jedoch bald darauf zu einem Kritiker des herrschenden Regimes.

​​Drei Jahre nach dem Tod Montazeris ist noch immer kein Geistlicher in Sicht, der seine Stelle füllen könnte. Seine Söhne Said und Ahmed sind zwar angesehene Kleriker, doch haben sie längst nicht die religiöse Autorität ihres Vaters. Nachdem im Juni 2010 auf persönliche Anordnung von Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei das Büro Montazeris geschlossen (und jeder Hinweis auf sein Grab entfernt wurde), sind sie in ihrer Arbeit stark eingeschränkt. In diesem Frühjahr intervenierte das Regime erneut und ließ die Türen zum Haus versiegeln.

Von den obersten Klerikern, bei den Schiiten Quelle der Nachahmung (Mardscha-e taqlid) genannt, bekennt sich allein Großayatollah Yousef Sanei offen zu der Reformbewegung und befürwortet eine rationale Neuauslegung des islamischen Rechts. Insbesondere in der umstrittenen Frage der Frauenrechte machte er sich einen Namen durch eine Reihe progressiver Rechtsgutachten. Doch seitdem ihm im Januar 2010 offiziell der Rang eines Mardscha-e taqlid aberkannt und im Juni 2010 sein Büro von Milizen verwüstet wurde, hält er sich zurück.

Auch Ayatollah Ali Mohammed Dastgheib, der sich nach der Wahl hinter die Grüne Bewegung gestellt und eine öffentliche Anhörung der offiziell unterlegenen Kandidaten Mir-Hossein Mussavi und Mehdi Karrubi gefordert hatte, vermeidet offene Kritik, seitdem im Januar 2010 seine Moschee in Schiraz von den Behörden geschlossen worden war. Bedeutende Impulse für eine Reform des Systems oder des Islams sind von dieser Seite nicht zu erwarten. Wer progressive Geistliche sucht, muss sich an die jüngere Generation wenden.

In die Spuren Montazeris: Ahmed Qabel

Zu den radikalsten und mutigsten Reformtheologen gehörte Ahmed Qabel. Er hatte nach einem Studium in Qom von Montazeri die Erlaubnis zur Auslegung des islamischen Gesetzes erhalten, trat aber seit Jahren nicht mehr im Gewand des Klerikers auf. Wegen seiner Kritik am System war er 2001 inhaftiert worden und anschließend ins Exil nach Tadschikistan gegangen. In einem beispiellosen Brief an Revolutionsführer Khamenei 2005 hatte er ihn verantwortlich gemacht für die Morde an Dissidenten und die Verfolgung und Unterdrückung der Opposition.

Ahmed Qabel; Foto: Afkarnews.ir
Ahmed Qabel gehörte zu den radikalsten und mutigsten Reformtheologen im Iran. Wegen seiner Kritik am System war er 2001 inhaftiert worden und anschließend ins Exil nach Tadschikistan gegangen.

​​Auch in anderen sensiblen Fragen nahm er kein Blatt vor den Mund. In einem Interview Anfang Juni erklärte er unumwunden, dass dem Gebot zur Verschleierung jede religiöse Grundlage fehle und ihm unbegreiflich sei, woher diese Obsession mit dem Haar von Frauen komme. Zwar hielt er eine völlige Verbannung der Religion aus der Politik in einer religiösen Gesellschaft weder für möglich noch für sinnvoll, doch lehnte er einen religiösen Staat, der im Namen Gottes zu herrschen vorgibt, entschieden ab.

In seinen letzten Lebensjahren arbeitete er an einer umfassenden Neuauslegung des islamischen Rechts, bei dem er auch die kontroversesten Fragen nicht aussparte. Er war überzeugt, dass die Grundlage aller religiösen Gesetze allein die Vernunft sein müsse. Diese Arbeit konnte Qabel nicht mehr vollenden. Auf dem Weg zu Montazeris Begräbnis erneut festgenommen, war er in einem Schauprozess zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Während der Haft schwer erkrankt, starb Ahmed Qabel Ende Oktober in Teheran.

Reformdebatte nicht völlig verstummt

Die Drohung der Verfolgung durch die Justiz hängt seit langem über den Reformern. Einige der wichtigsten Vordenker der Reformbewegung wie Mohsen Kadivar, Hasan Yussefi Eshkevari, Akbar Gandschi oder Abdolkarim Soroush sind deshalb ins Exil gegangen.

Doch noch immer gibt es im Iran Geistliche, die sich offen und kritisch zur Politik äußern und weiter für eine Reform des Islam eintreten. In der Versammlung der Lehrer und Forscher der Seminare von Qom (Madschma'-e Qom) haben sich einige von ihnen zusammengeschlossen.

Ayatollah Hossein Musavi-Tabrizi ; Foto: MEHR
Bruch mit dem starren Dogmatismus der "Velayat-e faqih": Ayatollah Hossein Musavi-Tabrizi nahm die Idee Montazeris auf, dass der herrschende Rechtsgelehrte nicht – wie von seinen Anhängern behauptet – von Gott ernannt, sondern vom Volk gewählt wird.

​​Ihr Vorsitzender Ayatollah Hossein Musavi-Tabrizi nahm bei einer Predigt im August die Idee Montazeris auf, dass der herrschende Rechtsgelehrte nicht – wie von seinen Anhängern behauptet – von Gott ernannt, sondern vom Volk gewählt wird. Seiner Ansicht kann das Volk auch einen Nicht-Kleriker wählen, solange er gläubig ist und etwas von Politik versteht. Zugleich rief er das Volk auf, mit Protesten und Kritik auf eine Reform der Regierung zu drängen, da sonst auch in der Gesellschaft die Korruption nicht beseitigt werden könne.

Ayatollah Mohammed Taqi Fazel-Meybodi, der ebenfalls der Versammlung angehört, legte Ende Juli in einem Artikel exemplarisch dar, warum es einer Reform der Scharia bedürfe. Viele der heute umstrittenen Bestimmungen zu den Frauenrechten, dem Heiratsalter, der Sklaverei, der Bestrafung von Ehebruch und Apostasie sowie der Diskriminierung religiöser Minderheiten könnten keine ewige Gültigkeit beanspruchen, argumentierte er, sondern wurden vom Propheten für seine Zeit und ihre Gesellschaft erlassen.

Wie Qabel ist Fazel-Meybodi überzeugt, dass die Bestimmungen zum Straf- und Familienrecht der gewandelten Vorstellung von Vernunft angepasst werden müssen. Wenn die Gesellschaft die Menschenrechte als vernünftig akzeptiert, so muss die Auslegung der Religion ihr folgen, fordert Fazel-Meybodi. Ganz neu ist diese Argumentation nicht, doch dass solche Ideen – insbesondere zu den besonders sensiblen Frauenrechten – heute offen im Herzen der Theologenstadt Qom geäußert werden, deutet auf eine wachsende Akzeptanz in der Geistlichkeit hin.

Urs Sartowicz

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de