''Das Volk will das Ende von Oslo''

Die Frustration der Palästinenser wächst: Nach mehreren Demonstrationen in Ramallah, die teils brutal von palästinensischen Polizeikräften niedergeschlagen wurden, stellt sich einmal mehr die Frage nach der politischen Zukunft in den besetzten palästinensischen Gebieten. Von René Wildangel

Von René Wildangel

Während der arabische Frühling tiefgreifende Veränderungen im Nahen Osten angestoßen hat, deren Ende noch nicht absehbar ist, herrscht in Palästina nach allgemeiner Ansicht Stillstand. Der Friedensprozess ist klinisch tot, in Israel regiert eine breite rechte Regierungsmehrheit und die Palästinenser sind intern zerstritten.

Trotz ständiger gegenteiliger Beteuerung kommt der Versöhnungsprozess zwischen Fatah und Hamas nicht voran. Der Palästinensischen Autorität, einst 1993 im Rahmen des auf fünf Jahre angelegten Oslo-Transitionsprozesses geschaffen, fehlt die Legitimität, denn Wahlen für das Präsidentenamt sowie den Legislativrat sind längst überfällig.

Schon seit längerem versuchen in den palästinensischen Gebieten insbesondere jüngere Palästinenser, einen neuen Diskurs zu etablieren, der jenseits der politischen Parteien einen "friedlichen Widerstand" zu organisieren versucht. Viele dieser Gruppen versuchen vor Ort, der israelischen Besatzung mit gewaltlosen Protesten entgegenzutreten, dort wo die Mauer palästinensisches Land abschneidet und Zugang verhindert, dort wo Siedler die Sicherheit der palästinensischen Bevölkerung bedrohen. Als Referenzrahmen zitieren sie Ghandi, Martin Luther King und Nelson Mandela. Ziviler Ungehorsam, Boykottbestrebungen und internationale juristische Mittel gehören zu den Instrumenten, um auf das erklärte Ziel, ein Ende der Besatzung, hinzuarbeiten.

Diese Bewegung, die sich von Hamas und Fatah und den anderen Parteien abgewendet hat, ist auch kritisch gegenüber einer palästinensischen Autonomiebehörde eingestellt, die aus ihrer Sicht Demokratiedefizite aufweist und kaum einen Beitrag zum Ende der Besatzung leistet, sondern lediglich die Scheinrealität eines palästinensischen Staates verwaltet – die auf Ramallah und wenige andere Städte begrenzt bleibt, denn nur 20% der Westbank stehen laut Oslovertrag als als "A-Gebiete" voll unter palästinensischer Kontrolle.

Mahmud Abbas und Benjamin Netanjahu bei Nahost-Friedensgesprächen in Washington 2010; Foto: picture-alliance/dpa
Mit dem Rücken zur Wand: Mahmud Abbas und die palästinensische Führung stehen unter dem massiven Druck der Amerikaner und des Nahost-Quartetts, die Verhandlungsoption nicht abreißen zu lassen. Viele Palästinenser assoziieren daher die PA jedoch immer mehr mit der Besatzung.

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Eine Führung ohne Legitimität

Obwohl die PA offiziell die gewaltlosen Proteste unterstützt, gibt es offensichtlich enge Grenzen für den eigenständigen Kurs und für Kritik an der PA. So wurden zuletzt Ende Juni/Anfang Juli zwei Demonstrationen in Ramallah gewaltsam durch palästinensische Sicherheitskräfte niedergeschlagen. Ein weiterer Protestmarsch verlief friedlich.

Anlass für die Proteste war zunächst die Ankündigung des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, den israelischen Vizepremierminister Shaul Mofaz zu treffen. Mofaz wird auf palästinensischer Seite in erster Linie mit den Kommandoaktionen der israelischen Armee während der zweiten Intifada in Verbindung gebracht, die unter anderem in Jenin viele zivile Opfer forderten. Außerdem gilt er als Politiker, der nicht für eine gerechte Lösung des Konfliktes, sondern für weitere Interimsschritte eintritt.

Inzwischen wurde zwar das Treffen auf unbestimmte Zeit verschoben. Aber viele Palästinenser haben jegliches Verständnis dafür verloren, dass Abbas weitere Verhandlungen in Betracht zieht, während die Siedlungstätigkeit und Landnahme in der Westbank ungebremst voranschreiten.

Vorangegangene Gespräche zwischen Unterhändlern beider Seiten sowie ein Austausch von Briefen zwischen Abbas und Netanjahu gaben zuletzt wenig Anlass zur Hoffnung auf konkrete Ergebnisse bilateraler Gespräche. Offiziell hat darin auch Abbas selbst den seit langem international geforderten Siedlungsstopp seitens Israels zur Bedingung für Verhandlungen gemacht.

Die Forderungen der überwiegend jungen Demonstranten in Ramallah, die für ihre freie Meinungsäußerung eintreten, waren wenig radikal. Im Zentrum stand die Forderung nach Einstellung von Verhandlungen mit Israel. Nach den zwei von palästinensischen Polizisten gewaltsam niedergeknüppelten Protestmärschen mit Dutzenden von Verletzten fand eine dritte Demonstration ohne Übergriffe statt, wobei neben den Slogans "Das Volk will das Ende von Oslo", "Das Volk will die Befreiung Palästinas" auch "Hör Abbas, es gibt keine Kraft, die uns zurückhält" skandiert wurde.

Mann mit palästinensischer Flagge; Foto: picture-alliance/dpa
Jenseits der Politik: Viele junge Palästinenser streben frei von Parteien-Interessen einen neuen Diskurs an und versuchen, friedlichen Widerstand zu organisieren

​​Warum die palästinensische Autorität (PA) mit derart ungebremster Gewalt gegen Protestierende vorging, bleibt unklar. Denn dass die Aktion nicht nur weitere Proteste nach sich ziehen würde, sondern im Zeitalter sozialer Medien und Smartphones lückenlos dokumentiert wird, war eigentlich klar. Deswegen gehen viele Beobachter auch davon aus, dass bewusstes politisches Kalkül dahinter steckt.

Offensichtlich ist der Druck auf die palästinensische Führung, die ohnehin längst ohne Legitimität der Wähler agiert, so groß, dass die Herrschaft notfalls auch mit gewaltsamen Mitteln gegen die eigene Bevölkerung gesichert werden soll. Zwar wurde nun seitens der PA eine Untersuchungskommission gebildet, die die Vorfälle untersuchen soll; das Vertrauen der Zivilgesellschaft darin ist allerdings derart gering, dass die wichtigsten NGOs eine eigene Untersuchung einleiten wollen.

Schon in der ersten Jahreshälfte 2012 kam es mehrfach zu Sperren von Internetseiten und Verhaftungen von Journalisten, die sich kritisch über die PA oder Präsident Abbas geäußert hatten. All dies passiert zu Zeiten des Arabischen Frühlings ausgerechnet in Ramallah, wo seit Jahren palästinensische und internationale Organisationen am Thema Demokratisierung und gute Regierungsführung arbeiten. Auch bei der EU, die seit Jahren in der hoch gelobten Mission EUPOL COPPS mit Millionenbeträgen palästinensische Polizei ausbildet, sollten spätestens jetzt die Alarmglocken klingeln.

Der schwache Mann in Ramallah

Abbas und die palästinensische Führung stehen unter massivem Druck – insbesondere der Amerikaner und des Nahost-Quartetts, die Verhandlungsoption nicht abreißen zu lassen. Aber der westliche Wunsch, den Oslo-Prozess künstlich aufrecht zu erhalten und auf dieser Grundlage erneut Verhandlungen aufzunehmen, ist nicht nur aus Sicht vieler politischer Beobachter eine Illusion. Meinungsumfragen der letzten Jahre zeigen eine wachsende Enttäuschung über den Friedensprozess der Vergangenheit angesichts der fortbestehenden Realität israelischer Besatzung, Bewegungseinschränkung und Gewalt seitens des israelischen Militärs und der Siedler.

Durch die zunehmende Assoziierung der PA mit der Besatzung ist Abbas bereits seit Monaten zum schwachen Mann in Ramallah geworden, dem viele Palästinenser trotz seiner früheren Verdienste nun Legitimität und politische Strategie absprechen.

Die israelische Siedlung Har Homa in Ostjerusalem; Foto: picture-alliance/dpa
Forderung nach Gerechtigkeit: Die Mehrheit der Palästinenser hat jegliches Verständnis dafür verloren, dass Abbas weitere Verhandlungen in Betracht zieht, während Israel seine aggressive Siedlungspolitik in der Westbank vorantreibt.

​​Die aktuelle Finanzkrise der PA, die ihren Angestellten das Junigehalt nicht auszahlen konnte, verstärkt die Unzufriedenheit. Nichts wurde von internationaler Seite getan, um Abbas politisch zu stärken, viel aber um ihn zu schwächen: So wurde sein einziger Trumpf, die UN-Initiative, von den USA und Israel und teilweise auch von Mitgliedsstaaten der EU massiv bekämpft. Jüngst wurde sogar gegen die Aufnahme der Geburtskirche in Bethlehem in das UNESCO-Weltkulturerbe opponiert, um politisches Kapital für die Palästinenser zu verhindern.

Aber ohne politisches Kapital ist kein Staat zu machen, noch nicht mal der Status Quo aufrecht zu erhalten. Die PA ist massiv geschwächt. Mit dem Rücken zur Wand stellt sie sich notfalls auch gegen die eigene Bevölkerung. Die Mittel, mit denen viele, insbesondere jüngere Palästinenser zunehmend versuchen, ihre Rechte einzufordern, werden von der PA höchstens halbherzig unterstützt, wenn nicht gar als feindseliger Akt wahrgenommen.

Unklar bleibt, in welche Richtung sich die Frustration entladen wird. Zwar ist die israelische Besatzung eigentlich das Hauptziel der Proteste, aber sollte die palästinensische Führung weiterhin derart losgelöst von der politischen Stimmung agieren, dürften auch die inneren Spannungen wachsen. Ob und wie eine "dritte Intifada", die derzeit von manchen Analysten und Journalisten herbeigeredet wird, verlaufen könnte, bleibt ebenso Spekulation wie die Frage, ob eine Art "palästinensischer Frühling" die PA hinwegfegen könnte.

Eindeutig ist aber das Ende jeglichen Vertrauens der Palästinenser in den Oslo-Prozesses und seine Nachwehen. Wenn die internationale Gemeinschaft zur Deeskalation von Spannungen beitragen will, sollte sie dies anerkennen und nicht die PA bei der Errichtung eines Polizeistaates, sondern die palästinensische Zivilgesellschaft bei ihrem Anliegen der Durchsetzung ihrer demokratischen Rechte und den friedlichen Bemühungen, ein Ende der Besatzung durchzusetzen, unterstützen.

René Wildangel

© Qantara.de 2012

Dr. René Wildangel ist Nahosthistoriker und leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de