Keine zweite Revolution

Die Absetzung Mohammed Mursis verschärft die Polarisierung in Ägypten. Damit das Land nicht bald unregierbar wird, müssen alle politischen Kräfte in den Übergangsprozess eingebunden werden, meint Loay Mudhoon in seinem Kommentar.

Von Loay Mudhoon

Keine Frage: Der Coup der Militärspitze um den Verteidigungsminister Abdel Fatah al-Sisi war klug inszeniert. Umgeben von den höchsten religiösen Autoritäten des Landes, dem Großscheich der Al-Azhar-Universität, Ahmed al-Tajjib, und dem koptischen Papst Tawadros II., dem international angesehenen Oppositionspolitiker und Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei und Vertretern der jungen "Tamarod-Bewegung", verkündete der Armeechef die Absetzung des offensichtlich gescheiterten Präsidenten Mohammed Mursi und die Aussetzung der Verfassung.

Doch diese geschickte Inszenierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesem gefährlichen und wohl folgenschweren Präzedenzfall um einen Putsch gegen einen demokratisch legitimierten Präsidenten handelt. Und es ist übrigens "keine zweite Revolution", wie Vertreter der Anti-Mursi-Koalition behaupten.

Denn der Machtkampf zwischen den verfeindeten islamistischen und "liberalen" Lagern wurde nicht durch deren erfolgreiche Massenmobilisierung am 30. Juni entschieden, sondern letztendlich durch die Intervention der Armee.

Militärisch organisierte "Entmachtungszeremonie"

Heute wissen wir, dass die Entscheidung der Armeeführung, gegen Mursi zu putschen, einige Tage vor den Massenprotesten feststand. Auch die Teilnahme der opportunistischen, salafistischen "Partei des Lichts" als Vertreterin des islamistischen Lagers an dieser militärisch organisierten "Entmachtungszeremonie" dürfte daran nichts ändern.

Anhänger des entmachteten Präsidenten Mursi protestieren in Kairo; Foto: Getty Images
Tiefe Gräben und gewachsener Hass: Die Gewalt zwischen Anhängern und Gegnern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi eskaliert weiter. Zuletzt waren am Freitag und in der Nacht auf Samstag bei Ausschreitungen und Zusammenstößen der verfeindeten Lager 36 Menschen getötet und über 1.000 weitere verletzt worden.

​​Aus diesem Grunde gehört es schlicht zur Glaubwürdigkeit, die gewaltsame Entmachtung Mursis durch das ägyptische Militär beim Namen zu nennen: Sie ist ein unrechtmäßiger Putsch und ein Rückschlag für den Demokratisierungsprozess.

Zweifelsohne hat sich Mursi als unfähig erwiesen, das größte arabische Land zu regieren. Vor allem hat er kläglich dabei versagt, das politisch gespaltene Land zu vereinen und Präsident aller Ägypter zu werden. Dies war insofern unabdingbar, da er vor einem Jahr mit knapper Mehrheit gewählt worden war.

Eine fragwürdige Allianz gegen Mursi

Verheerend war zudem die offensichtliche Unfähigkeit seiner Regierung, effizient gegen die drängenden wirtschaftlichen Probleme, unter denen die Bevölkerung leidet, vorzugehen. Gegen die hohe Arbeitslosigkeit, die Inflation und die Treibstoffknappheit hat sie wenig unternommen.

Aber war das Einschreiten des Militärs überhaupt notwendig, um Mursis Regierungszeit zu verkürzen? Wenn man bedenkt, dass Mursis Autorität nach den Megademonstrationen fast minutiös erodierte, muss man daran zweifeln.

Schon jetzt steht fest: Die Anti-Mursi-Allianz hat eine historische Chance versäumt, die Muslimbrüder, den Hauptvertreter des Islamismus, politisch scheitern zu lassen. Stattdessen liefert man den eigentlich gescheiteren Islamisten eine Steilvorlage für einen neuen Märtyrer-Mythos.

Die Mainstream-Islamisten werden nach den Erfahrungen in Algerien 1992, als die Generäle putschten und die Islamische Heilsfront um ihren Wahlsieg brachten, und Kairo 2013 nämlich behaupten: Immer wenn wir demokratische Wahlen gewinnen, lässt man uns scheitern oder man putscht gegen uns.

Fraglich bleibt auch, ob die heterogene und chronisch zerstrittene Anti-Mursi-Opposition in der Lage war, den Islamisten politisch Paroli zu bieten. Mit ihrer Absage an jegliche Dialog-Angebote des Ex-Präsidenten und ihrer Ankündigung, die Parlamentswahlen im Frühjahr zu boykottieren, trug sie mit zur Selbstblockade des Landes bei. Auch ihre Allianz mit den Schergen des alten, diskreditierten Mubarak-Regimes bleibt höchst fragwürdig.

Bedacht auf die eigenen Privilegien

Außerdem: Wenn die sogenannte "Anti-Mursi-Allianz" glaubt, das Militär habe lediglich den Willen des Volkes ausgeführt und handele im Sinne der Demokratie, erweist sie sich als naiv. Denn die Generäle sind in erster Linie darauf bedacht, ihre Privilegien zu verteidigen. Die Armee ist bekanntlich ein Hort der Korruption und kontrolliert mindestens ein Viertel der ägyptischen Wirtschaft. Zudem hat sie bei der Verwaltung der ersten zwei Jahre nach Mubaraks Abgang völlig versagt.

Die Absetzung Mursis vertieft nicht nur die Polarisierung in Ägypten. Sie droht, das 90-Millionen-Land unregierbar zu machen und an den Rand des Staatszerfalls zu bringen. Um dieses Szenario zu verhindern, müssen alle politischen Kräfte in den neuen Übergangsprozess eingebunden werden, allen voran die Muslimbrüder. Denn sie bleiben die bestorganisierte Kraft im Lande. Alle Versuche, eine neue politische Ordnung im Post-Mursi-Ägypten ohne sie zu errichten, dürften wenig Aussicht auf Erfolg haben.

Deutsche und europäische Vertreter sollten daher drauf drängen, dass die scheinbar begonnene Hexenjagd auf die Muslimbrüder und ihre Führung sofort gestoppt wird - und die Zusagen der Armeeführung für eine neue Verfassung und baldige Neuwahlen umgesetzt werden.

Loay Mudhoon

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de