Die singenden Barden Bengalens

Lalon Shah ist der König der Bauls, einer einzigartigen mystischen Tradition aus der Region Bengalen. Der indische Theaterwissenschaftler und Darsteller Sudipto Chatterjee macht den Mystiker nun in Deutschland bekannt. Von Marian Brehmer

In Bengalen ist Wasser das wichtigste Element. Wasser durchzieht und nährt die Region. Wo sich die gigantischen Flüsse Ganges und Brahmaputra vereinigen, liegen heute das Land Bangladesch und weiter westlich der indische Bundesstaat Westbengalen mit seiner Hauptstadt Kolkata.

Diese Trennung ist eine jüngere Entwicklung in der Geschichte. Bengalen war einst eine Ansammlung von Inseln die über die Zeit zu einer Landmasse verschmolzen. Die Gegend ist Sammelbecken für verschiedene Kulturen und Religionen. Nicht Ethnie hält ihre Bewohner zusammen, sondern vielmehr die gemeinsame Sprache Bengali.

"Es ist wohl dieser besonders vielgestaltige Charakter der Region der eine Bewegung wie die Bauls gedeihen ließ", meint Sudipto Chatterjee. Die Bauls sind die singenden Barden Bengalens – Mystiker, deren Traditionen sich nicht genau datieren lassen. Ihre Philosophie ist ein Potpourri verschiedener Denkrichtungen, enthält sufistische, hinduistische und buddhistische Elemente.

Weder Hindus, noch Muslime

Die Bauls sind weder Hindus, noch Muslime. Sie folgen keiner institutionalisierten Religion. Ihre synkretistische Tradition ist vielmehr eine Reaktion auf alle Formen von institutionalisierter Religion. Nach dem Glauben der Bauls, der durch das Tantra inspiriert ist, lebt das Göttliche im weiblichen Körper. Während der Menstruation tritt das Göttliche hervor und kann sich bei der sexuellen Vereinigung mit dem Mann manifestieren. Dieser Sex muss frei von Lust sein, der Baul-Praktizierende darf dabei keinen Orgasmus haben.

Sudipto Chatterjee; Foto: Sudipto Chatterjee
Beschäftigt sich seit 15 Jahren mit der Ikone der Baul-Tradition, dem König der Bauls, dem großen Lalon Shah: Der Theaterwissenschaftler und Darsteller Sudipto Chatterjee

​​Chatterjee, Theaterwissenschaftler und Darsteller, beschäftigt sich seit 15 Jahren mit der Ikone der Baul-Tradition, dem großen Lalon Shah (1774-1890). Er ist Hauptdozent für Theater an der Loughborough University, England, und forscht zurzeit im Rahmen des Programms "Interweaving Performance Cultures" an der FU Berlin.

Schon im Alter von sechs begegnete er den Liedern Lalons. "An unserem Haus in Kolkata zogen die Bauls vorbei und sangen seine Lieder. Ich saß am Fenster und versuchte mitzusingen", erzählt Chatterjee. Wovon sangen diese Menschen, deren geheimnisvolle Texte voller Symbole und Gleichnisse sind?

Erst später als Student in New York wandte sich Sudipto Chatterjee wieder Lalon Shah zu und begann sein Werk zu studieren. Damals keimte die Idee von einer Theateraufführung auf, die Lalon gewidmet sein sollte. Von 1997 an reiste Chatterjee wiederholt nach Bangladesch und arbeitete mit seinem Studienkollegen Suman Mukherjee, Theaterregisseur aus Kolkata, und der Dokumentaristin Proshot Kalami an einem Stück über Lalon. Erstmals wurde das Projekt 2004 in Berkeley, Kalifornien, aufgeführt.

Ein Mann von 116 Jahren?

Lalon Shah soll 116 Jahre alt geworden sein."Für uns scheint das heute unglaublich, aber ich habe unter den Bauls Menschen getroffen, die älter sind als wir es hier für möglich halten", sagt Chatterjee.

Lalon lebte und wirkte in Kushtia, einer Stadt im Westen des heutigen Bangladesch. Wenige Details sind über das Leben des Mystikers bekannt. Etwa 1.000 Lieder sind von ihm überliefert, wovon rund 600 von seinen Jüngern aufgeschrieben wurden. Das Baul-Repertoire existiert vor allem in der mündlichen Tradition. "Die Lieder sind nicht dazu bestimmt, aufgeschrieben zu werden, sondern können nur durch Aufführung verstanden werden", sagt Chatterjee. Nur so entfalteten sich die vielen Facetten der Musik.

Es war kein geringerer als der bengalische Literaturnobelpreisträger und größte Literat Indiens Rabindranath Tagore (1861-1941), den Lalons Lieder berührten und der sein Werk überregional bekannt machte.

Lalons Lieder handeln oft von Gott und der Suche nach der Wahrheit. Manchmal beginnt ein Lied mit einer Referenz auf eine hinduistische Gottheit oder auf den Propheten Muhammad. Doch im Verlauf der Strophen löst sich dieses Bild auf. Lalon kritisiert blinden Glauben und die Zankereien zwischen den Religionen. Er selbst gehörte keiner der Glaubensgemeinschaften an. "So wie er die Traditionen der unterschiedlichen Religionen aufgriff und annahm, wies er sie gleichzeitig wieder zurück", sagt Chatterjee.

Lalon glaubte daran, dass das Göttliche im Inneren des Menschen residiert und es daher weder eines Tempels noch einer Moschee bedarf – der Körper ist Tempel und Moschee zugleich.

Jenseits von Identitäten und Konzepten

Theaterstück Man of the heart, Foto: Sudipto Chatterjee
"Eine Botschaft des Dialogs, aktueller denn je": Theaterstück "Man of the heart" in Berlin.

​​Besonders in Zeiten, in denen eng definierte Identitäten an Bedeutung gewonnen haben, wird eine Figur wie Lalon oft missverstanden. Hindus stellen ihn als Hindu dar und Muslime sehen ihn ihm einen Muslim. Beide berufen sich auf entsprechende Stellen in Lalons Liedern. Und verstehen dabei nicht, dass Lalon jenseits dieser Konzepte war. Die Bauls sind für sie Ketzer, die bekehrt werden müssen.

Vor einigen Jahren wurden Bauls in Kushtia von einer Gruppe orthodoxer Muslime überfallen, in eine Moschee gezerrt und dazu gezwungen, ihre Köpfe und Bärte zu rasieren. Sie sollten ihre Schuld einsehen und beteuern, dass sie fortan dem Islam folgen würden. Auch zwischen Indien und Bangladesch besteht ein Streit um Lalon. Beide Länder haben Briefmarken mit dem Konterfei Lalons herausgegeben und beanspruchen den Dichter für ihr jeweiliges Nationalerbe.

Auch Politik und Kritik an sozialen Verhältnissen kommen in Lalons Liedern vor. Eines handelt von Piraten "die gekommen sind und alles im Dorf geplündert haben" – eine Anspielung auf die Ausbeutung durch die Briten – zugleich aber auch ein verschlüsselter Hinweis auf die Feinde im eigenen Körper. In einem anderen Lied singt Lalon von einer Zeit, "in der Blinde die Blinden führen und die Stummen laut reden".

"Lalon muss hier die Globalisierung vorausgesehen haben", lacht Sudipto Chatterjee. Fast prophetisch. Lalon und seine Botschaft des Dialogs seien aktueller denn je, erklärt Chatterjee dem Publikum in Berlin. Im vergangenen Juli hat er dort mit einem Ensemble aus bengalischen Musikern an vier Orten (unter anderem im Haus der Kulturen der Welt) Lalons Lieder vorgetragen. Die Resonanz der Zuhörer war überall positiv. "Lalons Worte sind zeitgemäß, universell und werden überall verstanden", sagt Chatterjee.

Nach den USA, Indien und London möchte Chatterjee nun in Berlin auch das ganze Theaterstück, "Man of the Heart", auf die Bühne bringen. Die Aufführung, die nächsten Sommer stattfinden soll, wird vom Internationalen Theaterinstitut Berlin (ITI) unterstützt.

"Es geht mir nicht darum, Lalons Biographie zu spielen oder gar Lalon selbst darzustellen. Vielmehr sollen seine Lieder und seine Philosophie auf der Bühne zum Leben erweckt werden", sagt Chatterjee. Seine Leidenschaft zu Lalon übersteigt das rein Akademische. Manchmal, so sagt er, spiele er sogar mit dem Gedanken, sich selbst der mystischen Tradition hinzugeben. Schließlich kann jeder Mensch ein Baul werden.

Marian Brehmer

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de