Selbstbestimmter Umgang mit dem Kopftuch

Fereshta Ludin gehört wohl zu den bekanntesten Lehrerinnen Deutschlands. 2003 begann ihr Kampf, mit Kopftuch an Schulen unterrichten zu dürfen – zunächst ohne Erfolg. Doch nach dem jüngsten Urteil der Karlsruher Richter ist sie optimistisch. Mit ihr sprach Emran Feroz.

Von Emran Feroz

Vor 15 Jahren wurde Ihnen aufgrund Ihres Kopftuches eine Anstellung als Lehrerin verweigert. Nun hat das Verfassungsgericht pauschale Kopftuchverbote gekippt. Wie beurteilen Sie das Urteil von Karlsruhe und wie war Ihre erste Reaktion?

Fereshta Ludin: Ich bin über das Urteil sehr erleichtert und fühle seitdem eine große innere Freiheit, die ich davor nicht haben durfte, weil mich die vorherige Entscheidung doch sehr in meiner Weiterentwicklung eingeschränkt und eingegrenzt hat. Das bisher geltende Urteil bedeutete eine massive Diskriminierung, was verletzend ist.

Sahen Sie sich manchmal in der Rolle als Sprecherin oder Repräsentantin aller muslimischen Kopftuchträgerinnen in Deutschland?

Ludin: Ich fühlte mich persönlich nicht als Repräsentantin, aber ich wurde von der Öffentlichkeit mehr oder weniger als eine solche Person betrachtet. Mein Verfahren musste zu Beginn meines Falles geklärt werden, denn mir wurde zu Unrecht vieles unterstellt und mit mir assoziiert. Diese Vorwürfe und Beschuldigungen mussten ausgeräumt werden. Dies ging leider nur über ein gerichtliches Verfahren. Später wurde aus meinem Verfahren ein Präzedenzfall – und da lag es nicht in meinen Händen, dass es von Justiz, Politik und Medien so gesehen wurde.

Erst durch die Auswirkungen der Kopftuchverbotsgesetze wurde vielen klar, welches Ausmaß eine solche Gesetzgebung auf alle anderen Menschen hatte. Die betroffenen Frauen haben in dieser Zeit eine enorme Ungleichbehandlung seitens der Justiz in manchen Bundesländern erfahren müssen. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben vielen Menschen klar gemacht, wie fatal solche pauschalen Kopftuch-Urteile für Frauenleben sind. Eine Absage gegen solche Pauschalurteile hat dieser Ungleichbehandlung nun ein Ende gesetzt.

Fereshta Ludin, muslimische Lehrerin und Beschwerdeführerin im Kopftuch-Streit, sitzt am 24.09.2003 nach der Urteilsverkündung im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor den Richtern; Foto: picture-alliance/dpa/U. Deck
Das Leben als Frau mit Kopftuch ist nach Einschätzung der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin schwieriger geworden. Das erste Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2003, das auf ihre Klage zurückging, habe sich massiv auf den Alltag vieler Frauen ausgewirkt, sagte Ludin in Berlin bei der Vorstellung ihrer neuen Autobiografie. Die danach in vielen Bundesländern erlassenen Verbotsgesetze hätten eine abstrakte Angst gegenüber muslimischen Frauen mit Kopftuch geschürt.

Viele Menschen assoziieren das Kopftuch immer noch mit der Unterdrückung der Frau, Demokratiefeindlichkeit und so weiter. Selbst der bekannte linke Philosoph Slavoj Žižek, der alles andere als islamfeindlich ist, schreibt in seinem jüngsten Werk "Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne", dass das Bedürfnis, Frauen verschleiert zu halten, für eine extrem sexualisierte Sicht und Nichtsicht auf Frauen spreche. Warum herrschen Ihrer Meinung nach selbst im linksliberalen Spektrum derartige Meinungen vor?

Ludin: Ich denke, dass Frauen nicht "verschleiert gehalten" werden sollen. Sie sollten sich selbst dafür oder dagegen entscheiden dürfen, ohne dass sie in eine bestimmte Schublade gesteckt werden. Es wird immer Frauen geben, die absolut dagegen oder dafür sind. Als emanzipierte Menschen sollten wir danach streben, den Frauen diese Entscheidung selbst zu überlassen. Eine frei denkende Gesellschaft sollte es aushalten, diese gegensätzlichen Praktiken in respektvoller Weise zu dulden, ohne sich davon in ihrem Selbstverständnis und Selbstbewusstsein gekränkt und provoziert zu fühlen.

Denken Sie, dass die vergangenen Kopftuchverbote hierzulande und die Praxis in anderen EU-Staaten islamfeindliche Ressentiments schüren oder diese stärken?

Ludin: Kopftuchverbote definieren, was diese Tücher bedeuten sollen. Sie auf eine einzige Deutungsmöglichkeit festzulegen, nämlich die Unterdrückung der Frau, ist nicht nur falsch, sondern stigmatisiert auch. Damit wird man weder der Sache noch den Frauen gerecht.

Vor Kurzem haben Sie Ihre Biografie veröffentlicht. An einer Stelle schreiben Sie darin: "Auch diskutiere ich heute nicht mehr, ob das Tragen eines Kopftuchs im Islam eine Pflicht darstellt oder warum sich jemand dafür oder dagegen entscheidet". Denken Sie nicht, dass in Anbetracht der gegenwärtigen Diskussionen gerade über diesen Punkt diskutiert werden muss?

Ludin: Mir war es wichtig, für mich selbst zu sprechen. Die Entscheidung für oder gegen die Verhüllung liegt ganz bei der Frau selbst. In meiner Biografie mache ich deutlich, wie der Wunsch, das Kopftuch zu tragen, sich bei mir entwickelt hat und wie ich selbst dazu stehe. Gegenwärtig gibt es theologische oder kulturelle Argumente sowohl für als auch gegen das Kopftuch. Am Ende ist diese Frage doch eine sehr persönliche, individuelle und für viele auch eine tief spirituelle. Die Frau sollte für sich die Entscheidung treffen – ohne jeglichen familiären, gesellschaftlichen oder politischen Druck und äußere Erwartungshaltungen.

Buchcover "Enthüllung der Fereshta Ludin: Die mit dem Kopftuch", erschienen im Levante-Verlag
"Auch diskutiere ich heute nicht mehr, ob das Tragen eines Kopftuchs im Islam eine Pflicht darstellt oder warum sich jemand dafür oder dagegen entscheidet": Fereshta Ludins Autobiographie: "Die mit dem Kopftuch"

Inwiefern trennen Sie Ihre Arbeit als Lehrerin von Ihrem politischen Engagement?

Ludin: Lehrer sind immer dazu angehalten, persönliche Belange nicht in den Vordergrund zu stellen und diese nicht zum Thema im Unterricht zu machen. Das erwarte ich von einer Muslima mit Kopftuch genauso wie von jedem anderen.

Wie reagierten Ihre Kollegen auf das Urteil und inwiefern existiert Islamfeindlichkeit auch innerhalb der Lehrerschaft?

Ludin: Die Lehrerschaft reagierte teils erfreut, teils sprachlos, da sie mit der neuen Situation nicht umzugehen weiß. Islamfeindlichkeit gibt es überall dort, wo wenig Wissen darüber vorhanden ist. Eine steigende Angst und Phobie entwickelt sich automatisch, wenn man Fehlinformation hat oder sich nur von Missständen informieren lässt.

Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass die Kopftuchdebatte sehr polarisierend geführt wird, auch seitens der Musliminnen, die in der Öffentlichkeit stehen. Da wird täglich gebloggt, interviewt und geschrieben und immer geht es nur um dieses Stück Stoff. Wie sehen Sie das? Gibt es da nicht wichtigere Dinge, auch bezüglich der Interessen der Muslime?

Ludin: Man sollte nicht vergessen, dass die Anti-Kopftuchdebatte seit mehr als 15 Jahren medial bewusst geführt wurde. Hier wurde einerseits auf die Betroffenen Druck ausgeübt, andererseits wurden sie nur dadurch definiert und wahrgenommen. Dieser Haltung wollten die Frauen etwas entgegensetzen. Die Betroffenen kamen bei der gesamten Debatte kaum zu Wort. Die Gegner sind in der Öffentlichkeit bis heute präsenter und bekommen großen Zuspruch von der Mehrheit der Bevölkerung. In der Debatte sollte es möglich sein, Frauen in ihrer individuellen und beruflichen Entwicklung zu unterstützen. Es müsste weniger darum gehen, das Kopftuch an sich zu bewerten, zu stigmatisieren und abzustempeln. Denn die Kopftuchfrage ist sehr vielschichtig und differenziert auslegbar. Das ist keine Neuheit in der islamischen Theologie und Tradition.

Kann man dank des Urteils nun eine Entspannung im öffentlichen Diskurs erwarten? Kann es gar als Vorlage für andere EU-Staaten dienen, in denen ganz ähnliche Debatten geführt werden?

Ludin: Jedes Land ist individuell zu betrachten. Jeder Staat hat seine ganz eigene Geschichte, Entwicklung und demnach auch seine eigene Gesetzgebung. Ich würde mir natürlich wünschen, dass diese massive Diskriminierung von muslimischen Frauen mit Kopftuch überall ein Ende findet.

Das Interview führte Emran Feroz.

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