Chance zum Austausch

Migrationsströme sind eine Herausforderung. Denn mit den einzelnen Menschen machen sich Kulturen, Sprachen, Gewohnheiten auf den Weg, die andernorts mitunter nicht verstanden werden. Musik als nonverbales, mit starken Gefühlen verbundenes Phänomen könnte da ein Medium der Überbrückung von Ratlosigkeit sein. Von Hans-Jürgen Linke

Von Hans-Jürgen Linke

Musik an sich gibt der Wissenschaft Rätsel auf. Während sich einerseits keine universelle Grammatik findet, die ihre Sprache über einzelne erlernte, in unterschiedlichen Sozialisationsvorgängen individuell vermittelte und angeeignete Äußerungsformen hinaus allgemeingültig erklären kann, scheinen auf der anderen Seite musikalische Parameter wie Rhythmus, Klang, Melodie etwas zu sein, was als Bedürfnis, als Basis eines Ausdrucksvermögens im genetischen Programm des Homo Sapiens vorhanden ist.

Auch wenn bestimmte Musikgattungen bis heute als regional gebunden gelten und Konventionen, Rituale, Regelsysteme, Klangvorstellungen Musik-Gattungen voneinander abgrenzen, ist Musik doch seit je ein Medium der Migration und des Austauschs – viel offener als Sprachen, die ja auch nach und trotz der Integration fremder Einflüsse in ihrer abgegrenzten Einheit erkennbar bleiben. Daraus ergeben sich widersprüchliche, manchmal antagonistische Entwicklungen.

So haben wir heute zum Beispiel die Situation, dass in der westlichen Musikindustrie aus allerlei so genannten ethnischen Einflüssen eine polymorphe, kommerziell verwertbare "Weltmusik" entsteht. Wir haben darüber hinaus die Situation, dass die in Westeuropa entstandene Kunstmusik heute eine internationale Attraktivität ausstrahlt und zu einem globalen, über ihre Ursprungsräume hinaus relevanten Phänomen geworden ist. Oder wir kennen den oft mit Kunstmusik-Anspruch ausgestatteten Jazz, der aus unterschiedlichen Stilistiken besteht und dessen Ursprung nicht in einer Region, sondern in den Entwicklungen der Migration und der Globalisierung selbst gelegen zu haben scheint.  

Die Vielfalt der Haltungen

Die Idee ist naheliegend, mit Hilfe von Musik konstruktiv zur Lösung sozialer und politischer Probleme in der aktuellen innenpolitischen und durch die Flüchtlingskrise verschärften Situation Westeuropas beitragen zu können. Aber die Lage ist alles andere als überschaubar. Denn Flüchtlinge werden in der Regel von einer Notsituation aus ihrer Heimat vertrieben. Sie kommen nicht in erster Linie zu uns, weil sie etwas Neues lernen wollen, sondern um sich in Sicherheit zu bringen oder eine neue Lebensperspektive ins Auge zu fassen.

Wenn sie nicht nur abwarten,bis die Situation zu Hause wieder besser geworden ist, sondern bleiben und sich integrieren wollen, stehen für sie normalerweise das Erlernen der Sprache und eine beruflich ausgerichtete Bildung im Vordergrund. In einem solchen Kontext wird Musik möglicherweise eher die Rolle eines Mediums sozialer Regression spielen, einer Pflege mitgebrachter Gefühlen und Rituale, zu denen man gleichwohl Menschen aus der neuen Umgebung einladen kann.

Eine andere Situation entsteht, wenn es sich bei den Emigranten um professionelle Musiker handelt. Sie werden dann nach Öffentlichkeit und Austausch suchen und wahrscheinlich nach Menschen, mit denen zusammen sie Musik spielen, erinnern oder neu erfinden können. Emigrierende Musiker bringen etwas mit und setzen es in der Fremde neuen Einflüssen aus, ob sie das nun wollen oder nicht. Nicht alle werden allerdings bestrebt sein, musikalische Einflüsse aus der neuen Umgebung aufzunehmen, zwischen den beiden Polen einer regressiven Traditionspflege und einer lernenden Offenheit sind alle Nuancen möglich. Und dann gibt es noch die große Zahl von Menschen, die Musik nur hören wollen. Und dann noch die, die sich für Musik gar nicht interessieren und die daher von musikgestützten Integrationsangeboten gar nicht erreicht werden.

Eine Frage der Richtung

Dieser kurze Drohnenflug über das Thema zeigt, wie vielgestaltig die Ausgangslage für Musik ist, die mit anderen Kulturen in Kontakt tritt. Es macht wenig Sinn, Flüchtlingen oder Emigranten etwas aufnötigen zu wollen, womit die einzelnen Menschen nichts anzufangen wissen. Wichtig dagegen ist, dass in diesem Arbeitsfeld eine Vielfalt von Angeboten entsteht, aus denen Erfahrungen entwickelt werden.

Auch die Idee, dass es eine soziale Praxis um das und mit dem Medium Musik geben könnte,  die etwa exklusiv auf die Bedürfnisse von Flüchtlingen zugeschnitten wäre, ist absurd: Musik grenzt nie a priori ein oder aus. Grundsätzlich ist jeder, der mit Musik arbeitet, darauf aus, keine präformierten Unterschiede und Rollen zu dulden. Im Prinzip kann jeder Hörer zum mitspielenden Musiker werden, jeder Musiker zum Komponisten, zum Orchestergründer, zum Bandleader. Alles Weitere wird in der Praxis des Musikmachens geregelt, die neue Erfahrungen produziert.

Es ist nichts einzuwenden gegen eine soziale musikalische Praxis für Emigranten-Gruppen. Nichts gegen abendliche Treffen von Flüchtlingen zum Musikmachen. Nichts gegen die Verknüpfung erfahrener Musiker zu ernsthaften, kontinuierlichen Gruppierungen. Im Alltag aber ist alles vielleicht ein bisschen einfacher, denn Musiker beschäftigen überall die gleichen Fragestellungen: Was wird gespielt? Wo wird gespielt und mit wem? Gibt es eine Gage, vielleicht sogar Spesen, wer bezahlt das und wie? Wo und wie kann man unbehelligt proben? Wie findet man andere Musiker? Was kann man gemeinsam machen, was nicht? Wie erreicht und erweitert man sein Publikum?

Die Praxis weist den Weg

Es gibt bereits eine Reihe von überaus produktiven Ansätzen und Initiativen im Lande. So verbindet zum Beispiel die 2008 gegründete Orientalische Musikakademie in Mannheim soziokulturelle Stadtteilarbeit mit einem differenzierten Bildungsangebot für Musik und Tanz und eigenen Veranstaltungen. Mit dem Projekt "Caravan of Music and Poetry" hat sie ein Forum geschaffen für "strandende Künstler" in der Gesellschaft, das ihnen Platz für ihre Arbeit und Vernetzung einräumen und zugleich einen Zugang zur Lebenssituation von Flüchtlingen schaffen soll. In Bremen hingegen hat der syrische Kontrabassist Raed Jazbeh vielfältige Kontakte zu anderen Orchestermusikern im westeuropäischen Exil aufgenommen und mit ihnen das "Syrian Expat Orchestra" gegründet.

Die Bayerische Philharmonie wiederum hat unter dem Arbeitstitel „Musik schafft Heimat“ einen koordinierenden Knotenpunkt im losen Netzwerk verschiedener Initiativen in Bayern gebildet. Hier sollen integrative Schlüsselerlebnisse mit Musik erzeugt werden, bei denen Flüchtlingen sowohl als Hörer wie als Musiker mit der einheimischen Bevölkerung zusammengebracht werden sollen.

In diesen Projekten werden Probleme erkannt und manchmal gelöst.  Es entstehen Austausch, Auseinandersetzung, Vernetzung und so bieten sich derartige Initiativen für Unterstützer-Ideen, für Fördermaßnahmen und zur Herstellung von Öffentlichkeit an. Sie schaffen für ihre Musik ein Publikum und einen neuen Zusammenhalt. Denn auf diese Weise funktioniert Musik als künstlerisches und soziales oder sogar professionelles System. Überall. So kann Musik auch auf das Leben von Flüchtlingen Einfluss nehmen. Dabei braucht sie jede ernsthafte Unterstützung.

Hans-Jürgen Linke

© Goethe Institut 2016