Die Vergangenheit als Quelle des Unglücks

Schahriar Mandanipur hat in der iranischen Literatur neue Akzente gesetzt. Derzeit ist der iranische Autor auf Einladung des West-Östlichen Diwan auf Lesereise durch deutsche Städte. Ein Portrait von Bahman Nirumand

Schahriar Mandanipur hat in der iranischen Literatur neue Akzente gesetzt. Nun ist der iranische Autor auf Einladung des West-Östlichen Diwan auf Lesereise durch deutsche Städte. Ein Portrait von Bahman Nirumand

Nur durch Schreiben konnte Schahriar Mandanipur die Anschläge vom 11.  September verarbeiten, Foto: privat
Nur durch Schreiben konnte Schahriar Mandanipur die Anschläge vom 11. September verarbeiten

​​Geboren wurde Schahriar Mandanipur 1956 in der südiranischen Stadt Schiraz, dem Geburtsort des großen Lyrikers Hafis. Er studierte Politikwissenschaften, beteiligte sich als Student an dem Volksaufstand gegen die Schah-Diktatur.

Während des iranisch-irakischen Krieges (1980-1988) begab er sich freiwillig an die Front. Dort erlebte er achtzehn Monate lang Tag und Nacht hinter den Schanzen und auf den Kriegsfeldern ein Dasein zwischen Leben und Tod.

Von der Front zurückgekehrte, lernte er den populären Schriftsteller Huschang Golschiri kennen. Dessen Kritik, aber auch Lob, verliehen ihm Mut zu seiner ersten Veröffentlichung, einer Kurzgeschichte in der Literaturzeitschrift "Mofid". Damit überwand er offenbar seine Scheu.

Seit 1989 hat er einen zweibändigen Roman, neun Bände mit Erzählungen und zahlreiche Essays zu literarischen und gesellschaftlichen Themen vorgelegt.

Zwischen Leben und Tod

In Mandanipurs Erzählungen herrscht zumeist eine rätselhafte, verschwommene Atmosphäre. Der Leser spürt zwar genau, worum es geht, tappt aber trotzdem im Dunkeln.

Die Zeitebenen vermischen sich, die Vergangenheit überholt die Zukunft, Tradition und Moderne prallen aufeinander, bilden dann eine Mischung, in der die Figuren umherirren und, getrieben von Angst und Einsamkeit, um ihr Leben kämpfen. Sie bewegen sich, unfähig zu einem normalen Dasein, an der Grenze zwischen Leben und Tod.

Jeder Versuch, Mandanipurs Geschichten politisch, sozial oder moralisch interpretieren zu wollen, schlägt fehl, weil sich die Figuren in keinem stringenten Rahmen bewegen. Sie agieren in einer widersprüchlichen Welt, die keine Harmonie duldet, die sich am Rande des Untergangs befindet.

Nur eine Erzählung auf Deutsch

In "Zerschlage die steinernen Zähne" aus dem Band "Moomia wa assal" (Mumie und Honig, 1997), der einzigen Erzählung, die bislang in deutscher Übersetzung vorliegt, agieren zwei Haupt- und einige Nebenfiguren. Der Leser begegnet jedoch nur einer Frau, über die er nichts Genaues erfährt, nicht einmal ihren Namen.

Sie ist die Verlobte oder Geliebte eines Mannes, der nur in Briefen zu Wort kommt, die sie von ihm empfängt. Aus diesen Briefen geht hervor, dass der Mann vom militärischen Zivildienst zum Aufbau in das Dorf Gurab geschickt wurde.

In dem Dorf gibt es eine Menge Lehmhütten, die durch einen unterirdischen Gang miteinander verbunden sind. Die Bewohner sind augenkrank, sie spucken Blut, wenn ihnen der staubige Wind in die Kehle gerät. Die Männer sitzen, jeder für sich, allein im Schatten der Hütten, rauchen Wasserpfeife, flüstern sich gelegentlich etwas zu, starren unaufhörlich auf die Straße.

Die Atmosphäre ist gespenstisch. Armut, Verwahrlosung und Misstrauen treiben die Dorfbewohner an den Rand des Wahnsinns, der sich auch auf den sich zutiefst einsam fühlenden Zivildienstleistenden überträgt. Er flüchtet in eine Katakombe.

Dort wird er einer tausendjährigen Tradition gewahr. Er stellt sich zwischen die Mauern, lauscht, hört das Tröpfeln des Wassers und ein Flüstern, das seit mehr als tausend Jahren anhält. Er entdeckt Wandzeichnungen und einen steinernen Mann: Symbol einer versteinerten Kultur und Tradition, die sich bei den apathischen Dorfbewohnern in unveränderlichen Gewohnheiten bemerkbar macht. Selbst das wenige Getreide "wächst aus tausendjähriger Gewohnheit".

Der Fluch der Vergangenheit

Der steinerne Mann hat ein Schwert in der Hand, das er in ein Tier gestoßen hatte. "Seine Augen hatten wegen der Blässe ihrer Winkel einen bittenden Ausdruck angenommen", schreibt der Dienstleistende im letzten Brief.

"Sie sagten: 'Stoß zu', also nahm ich einen Stein und schlug ihm damit die Zähne ein, ich tat genau das, was er schon seit tausend Jahren wollte. (…) Ich schlug immerfort, Stein für Stein für Stein zerbrach und fiel herab, und dann war da noch Dunkelheit und das schreckliche Geräusch des Wassers."

Die Vergangenheit ist die Quelle des Unglücks. Sie muss "Stein für Stein" zerschlagen werden. Die Menschen müssen schlimme Qualen erleiden, bis eine neue Epoche geboren ist, die Welt muss verbrennen, damit die trockene, ausgelaugte Erde wieder fruchtbar wird.

Hier wie in anderen Erzählungen Mandanipurs spielt die Tradition, die alte Kultur, über die scheinbar längst Gras gewachsen ist, eine ambivalente Rolle. Sie kann für die Gegenwart zerstörerisch sein, wenn sie als Instrument der Unterdrückung eingesetzt oder als Quelle des Aberglaubens dient, sie kann aber auch wegweisend sein für die Zukunft, für eine Neugeburt, wenn man sich produktiv und kritisch mit ihr auseinandersetzt.

Erdbeben, Krieg und Liebe

Ein weiteres Thema, dem sich Mandanipur widmet, ist der Fluch, dem Individuen, Familien oder ganze Gesellschaften ausgesetzt sind. Diese Thematik kommt in den meisten Geschichten des Bandes "Moomia wa assal" (Mumien und Honig), am deutlichsten aber in dem Roman "Del-e deldadegi" (Das Wagnis der Liebe, 1998) zum Ausdruck.

Der Roman beschreibt die verheerenden Wirkungen einer Naturkatastrophe, hier die des Erbebens, sowie die des Krieges. Das Erdbeben ist ein Fluch, der unerwartet über die Menschen hereinbricht, der Krieg eine Katastrophe, die die Menschen selbst verschulden. Der Autor, der beides am eigenen Leib erfahren hat, enthält sich jedoch jedes Urteils.

"Salome" (Salome) aus dem Band "Schargh-e banafscheh" (Der violette Orient, 1999) erzählt die Liebesgeschichte zwischen einer vorübergehend im Iran weilenden Engländerin und einem iranischen Fremdenführer. Die Geschichte ist auch eine Begegnung zwischen Orient und Okzident.

Geschichten über den 11. September

Der Erzählband "Abi-je mawara-je bahar" (Das Blau jenseits der Meere, 2003) entstand unter dem Eindruck der Anschläge von 11. September 2001. Elf Kurzgeschichten schildern Einzelschicksale. Der Terrorismus reiht sich in die Kette von Naturkatastrophen und Kriege ein.

In einem Nachwort schildert der Autor, dass er als iranischer Schriftsteller von ständigen Alpträumen heimgesucht werde. Er habe den Krieg erlebt, das schreckliche Erdbeben in Rudbar im Nordiran und schließlich den freiwilligen Sturz eines Mannes von einem Wolkenkratzer am 11. September.

Die einzige Rettung aus dem schrecklichen 11. September und den Alpträumen, die dem Massenmord folgten, war für Mandanipur das Schreiben. Doch es fiel ihm schwer, das Schicksal jener Menschen in Worte zu fassen, die weit entfernt von ihm lebten, und er fragte sich, was die Opfer auf der anderen Seite der Erde mit ihm und seinen Qualen zu tun hätten.

Mit den Anschlägen in New York und Washington sei eine neue Zeit angebrochen. Es habe sich eine grundlegende Veränderung vollzogen, vor der die Menschen "nichts wussten oder nichts wissen wollten", schreibt Mandanipur. Die Würde des Menschen sei zerstört und eine gesellschaftliche Vereinbarung, ein Gesetz, außer Kraft gesetzt worden.

Mandanipur bietet keinen Ausweg, er provoziert, rüttelt auf, macht wütend. Der Leser möchte nicht selten die Figuren aus ihrer Lethargie herauszerren, sie ermuntern, den Schicksalsschlägen zu widerstehen.

Bahman Niruman

© Qantara.de 2005

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