Die unvollendete Revolution

Am 25. Januar 2011 ging das ägyptische Volk auf die Straße, um gegen das autokratische Mubarak-System aufzubegehren. Obwohl sich die Demokratieaktivisten mit ihren Forderungen bisher nicht durchsetzen konnten, halten sie an ihrem Kampf für Freiheit und Mitbestimmung fest. Eine Reportage von Amira El Ahl aus Kairo

Vor etwas mehr als einem Monat war die Straße vor dem Parlamentsgebäude in Kairo noch der Schauplatz brutaler Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Davon war am vergangenen Montagmorgen (23.1.) nichts mehr zu spüren. Nur der Stacheldraht, der die Straße nun von beiden Seiten abriegelt, erinnert noch an die Gewalt im vergangenen Monat.

Die Stimmung ist ausgelassen. Ein junger Mann wird auf den Schultern getragen wie ein Held, andere halten kleine Blumensträuße in den Händen sowie Flaggen der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, dem politischen Ableger der Muslimbruderschaft. Es wird gesungen und getanzt.

Zum ersten Mal seit fast 60 Jahren hat Ägypten in freien Wahlen ein Parlament gewählt, das am letzten Montagmorgen zu seiner ersten Sitzung zusammen kam. Die Muslimbrüder haben 47 Prozent der Mandate im neu gewählten Parlament gewonnen und werden ab jetzt mitbestimmen, wohin das Land politisch steuert. Ihr 80 Jahre währender Kampf gegen die autoritären Machthaber am Nil hat endlich Früchte getragen.

Wut und Trauer der Revolutionäre

Ägyptische Polizei vor dem Parlament in Kairo; Foto: AP/dapd
Eine vom Volk abgetrennte Volksvertretung: Stacheldraht und militärische Bewachung vor dem Parlamentsgebäude in Kairo. Am Montag tagte das seit 60 Jahren erste frei gewählte Parlament Ägyptens zum ersten Mal.

​​Während die Anhänger der Muslimbrüder ihren Sieg feiern, herrscht keine 100 Meter entfernt hinter aufgetürmtem Stacheldraht, der die Straße absperrt, eine ganz andere Stimmung.

Arbeiter, Künstler und Familien der sogenannten "Märtyrer", also der Aktivisten, die im Verlauf der Revolution getötet wurden, hatten sich am Morgen an sechs verschiedenen Demonstrationszügen beteiligt, die aus verschiedenen Teilen Kairos kommend auf das Parlament zusteuerten. "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" riefen die Demonstranten und forderten unter anderem Gerechtigkeit für die "Märtyrer" und Meinungsfreiheit für Künstler und Kulturschaffende.

Seit Wochen hatten sich die Aktivisten auf den Jahrestag der Revolution vom 25. Januar vorbereitet. Die vorangegangene Woche hatten die Aktivisten "die Woche des Trauerns und der Wut" genannt, jeden Tag gab es Demonstrationen und Protestmärsche.

Außerdem wurden überall im Land sogenannte "Kazeboon", zu Deutsch: "Lügen"-Veranstaltungen organisiert. Die Aktivisten wollten dabei die Lügen des Militärs aufdecken, indem sie Video-Vorführungen auf den Straßen und Plätzen des Landes organisierten und damit alljene Menschen informierten, die keinen Zugang zum Internet haben und - außer dem Staatsfernsehen - über keine anderen Informationsquellen verfügen.

Alles, was die Aktivisten dafür benötigen, ist ein Beamer und eine weiße Projektionsfläche – oft genügt ein weißes Laken.

Vertreter der Muslimbruderschaft im ägyptischen Parlament; Foto: Reuters
Die größte Fraktion im neuen ägyptischen Parlament: Das Parteienbündnis unter Führung der Muslimbruderschaft ("Ikhwan al-Muslimun") hatte nach den ersten freien Parlamentswahlen nach der Mubarak-Diktatur 47 Prozent der Stimmen gewonnen.

​​Die Aktivisten zeigen Zusammenschnitte selbstgedrehter Videos und offizieller TV-Beiträge: Pressekonferenzen der Militärs und exzessive Gewalt prügelnder Soldaten gegen Demonstranten. Ihre Videos und Bilder sind ihre potentesten Waffen. Sie zeigen schockierende Aufnahmen der brutalen Armee-Einsätze und strafen damit die Militärs Lüge, die behaupten, Hüter der Revolution zu sein.

Dabei setzen sich die Aktivisten einem großen Risiko aus. Immer wieder werden die Vorstellungen unter Gewaltanwendung aufgelöst. Erst am Montagabend wurden "Kazeboon"-Aktivisten in Alexandria von ultrakonservativen Salafisten verbal und physisch attackiert. Sie stoppten die Vorstellung, zerstörten die Ausrüstung der Aktivisten und drohten ihnen mit weiteren Angriffen, sollten sie am 25. Januar zum Demonstrieren auf die Straße gehen.

Die Konterrevolutionäre feiern die Revolution

Der regierende Militärrat hingegen hatte den 25. Januar zu einem nationalen Feiertag ausgerufen. Hohe Militärs begingen diese landesweiten Feierlichkeiten unter anderem mit einem eigens komponierten musikalischen Bühnenwerk und einer Militärflugshow. Demokratieaktivisten und Politiker kritisierten, dass der Militärrat mit den Feierlichkeiten nur von der Tatsache ablenken wolle, dass die Revolution alles andere als vollendet sei.

"Wir werden nicht auf die Straße gehen, um zu feiern. Wir werden auf die Straße gehen, um die Revolution fortzuführen", sagte Ahmed Emam auf einer Pressekonferenz vergangene Woche, auf der 76 Parteien und Organisationen ankündigten, an den geplanten Protesten am 25. Januar teilzunehmen. "Wir werden nicht feiern, so lange das Blut der Märtyrer noch nicht trocken ist."

Demonstartion von Demokratieaktivisten in Kairo; Foto: Viktoria Kleber/DW
"Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit": Ägyptens Demokratiebewegung konnte am ersten Jahrestag des Aufstandes gegen Mubarak bereits einige Erfolge verbuchen. Doch ihre Hauptforderung nach Ablösung des Militärrates stieß bislang bei der Armeeführung auf taube Ohren.

​​Eine Hauptforderung der Demonstranten besteht in der schnellen Übergabe der Regierungsgeschäfte an Zivilisten. Auch sollen diejenigen angeklagt werden, die für den Tod von Demonstranten verantwortlich sind. Die Militärregierung hat indes versprochen, im Juni die Geschäfte an einen gewählten Präsidenten abzugeben.

Viele Ägypter sehen dieses Versprechen als ausreichend an, vor allem mit Hinsicht auf das neu gewählte Parlament, das sich nun der Herausforderung und Verantwortung stellen muss, die Wünsche des Volkes politisch umzusetzen.

Salami-Taktik der Militärs

Des Weiteren hat das Militär im Vorfeld des nahenden Jahrestages der Revolution einige Zugeständnisse gemacht. So ließ das Militär wissen, dass 1.959 Gefangene, die in den vergangenen zwölf Monaten von einem Militärgericht verurteilt worden waren, freigelassen würden. Mehr als 12.000 Zivilisten wurden seit dem Sturz Mubaraks vor Militärgerichte gestellt und zum Teil zu langen Haftstrafen verurteilt. Das sind mehr als in 30 Jahren Mubarak-Herrschaft zusammen.

Unter den jetzt Begnadigten ist auch der Blogger Maikel Nabil, der von einem Militärgericht zu drei Jahren Haft verurteilt worden war, weil er sich in seinem Blog kritisch über das Militär geäußert hatte. "Wir sind überglücklich für die Familien der Inhaftierten", sagt Shahira Abouleil, eine Aktivistin der Organisation "Nein zu Militärverfahren gegen Zivilisten". "Aber wir verlangen von der Armee eine klare Position, dass sie die Praxis der Militärverfahren offiziell einstellt."

Feldmarschall Tantawi; Foto: dpa
Wirkliche Konzessionen oder nur Lippenbekenntnisse? Anlässlich des ersten Jahrestages des Aufstands in Ägypten hatte Feldmarschall Tantawi angekündigt, den seit über drei Jahrzehnten geltenden Ausnahmezustand weitgehend aufzuheben.

​​Zwar wurde die Begnadigung schon am vergangenen Samstag (21.1.) öffentlich gemacht, doch die Gefangenen sollten erst am 26. Januar freigelassen werden, einen Tag nach dem Jahrestag der Revolution.

Der Militärrat bezweckte damit offensichtlich zweierlei: zum einen sollten mit der Begnadigung bereits im Vorfeld des 25. Januar die Gemüter beruhigt werden, um hierdurch Massendemonstrationen vorzubeugen. Außerdem sollte damit gleichzeitig verhindert werden, dass Symbolfiguren des Widerstands wie Maikel Nabil zum Jahrestag wieder protestierende Massen auf den Straßen mobilisieren könnten. Das Momentum sollte gebrochen werden.

Zudem hatte der Militärrat versprochen, denjenigen Jobs zu verschaffen, die während der Auseinandersetzungen mit der Polizei und dem Militär verwundet wurden. Wann und wie genau dieser Plan umgesetzt werden soll, wurde allerdings nicht genauer erläutert.

Politischer Wandel über öffentlichen Druck

"Diese Zugeständnisse sind kein Beweis für politisches Wohlwollen von Seiten des Militärs", sagt Heba Morayef von "Human Rights Watch" in Kairo. "Die Begnadigung Maikel Nabils ist eine direkte Folge des Engagements von 'Nein zu Militärverfahren gegen Zivilisten'. Es zeigt, dass öffentlicher Druck immer noch funktioniert."

Die NGO "Nein zu Militärverfahren gegen Zivilisten" hatte sich ebenfalls an den Demonstrationen vom 25. Januar beteiligt. Ihre Aktivisten fordern bisa heute ein Ende der Militärverfahren, die Entlassung aller politischen Gefangenen sowie einen Transfer der Macht an ein ziviles Gremium.

Immer nur dann scheibchenweise Zugeständnisse zu machen, wenn der öffentliche Druck zu hoch wird, reicht offensichtlich nicht mehr aus, um die Aktivisten zufriedenzustellen.

Amira El Ahl

© Qantara.de 2012

Redaktion: Lewis Gropp & Arian Fariborz/Qantara.de