Erste konstituierende Sitzung des afghanischen Parlaments

Afghanistan hat drei Monate nach den Wahlen erstmals eine Legislative als dritte Gewalt im Staat. Die Arbeit der Abgeordneten wird jedoch nicht einfach sein. Einzelheiten von Said Musa Samimy

Afghanisches Parlament; Foto: AP
Das afghanische Parlament ist in viele verschiedene Lager zersplittert, Präsident Karsai wird deshalb vielen Gruppen Zugeständnisse machen müssen.

​​Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat mit mehr als dreißig Volksstämmen - Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Hasara oder Turkmenen, um einige zu nennen. Da sich die Afghanen vor allem ihren Volkstämmen verpflichtet fühlen, wird diese Zugehörigkeit in der Regel höher bewertet als die politische oder religiöse.

Die politische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten hat zur Erstarkung der Minderheiten geführt. Ihr politisches Bewusstsein ist erwacht, ihre politischen Organisationen und militärischen Strukturen haben sich gefestigt. Die Minderheiten fordern angemessene politische Partizipation, die Förderung ihrer Kultur und die Möglichkeit der ethnischen Entfaltung.

Die Zusammensetzung des afghanischen Parlaments mit 249 Mandatsträgern entspricht etwa der ethnischen Struktur des Landes: Die Paschtunen stellen mit 110 Parlamentariern - etwa 44 Prozent - die größte ethnische Fraktion dar. An zweiter Stelle kommen die Tadschiken mit 66 Mandaten (27 Prozent). Die Hasaras verfügen über 26 Mandate (10 Prozent), die Usbeken über 19 (8 Prozent). Der Rest setzt sich aus den kleinen Bevölkerungsgruppen, wie z.B. Turkmenen, Sadat etc., zusammen.

Konservative und Traditionalisten stärkste Gruppe

Wenn man die politische Zugehörigkeit als Grundlage nimmt, ist mit rund 50 Prozent der Parlamentssitze die Gruppe der Konservativen und gesellschaftspolitischen Traditionalisten die stärkste. Sie haben damit das schon im Laufe der Kriegesjahre an die "Dschehadi-Gruppen" verlorene Terrain eindeutig zurück gewonnen.

Sie streben keine Theokratie an, sondern gelten als politisch gemäßigt und sind überwiegend Anhänger des Volksislam, einer Mischung aus islamischen und vor-islamischen Vorstellungen sowie Stammestraditionen. Diese Gruppe von Abgeordneten ist meist eingebunden in ein soziales Klientel-ähnliches System, in dem sie selbst als Schutzpatrone die Interessen ihrer Schutzbedürftigen vertreten.

Für die religiösen Gruppen - von Fundamentalisten bis hin zu Vertretern des gemäßigten Islam - verlief die Wahl enttäuschend, denn statt der erwarteten 50 Prozent haben sie nur 30 Prozent der Mandate bekommen. Trotz der demokratischen Verfassung des Landes kämpfen sie für die Errichtung einer islamischen Theokratie.

In der dritten Gruppe, die etwa 20 Prozent der künftigen Parlamentarier ausmacht, befinden sich die unterschiedlichen säkular orientierten Kräfte. Diese Gruppe umfasst ein politisches Spektrum, dessen Reichweite von liberalen Demokraten bis hin zu Anhängern sehr links orientierter Vereinigungen reicht.

Viele Konflikte, wenig Erfahrung

Der Gegensatz und die Streitigkeiten zwischen säkular orientierten Kräften und den Vertretern der Apologeten des Islam werden eine konstruktive parlamentarische Arbeit erschweren, vor allem weil die gewählten Abgeordneten keine parlamentarische Erfahrung haben. Auch die Parlamentarier wissen, dass es nicht einfach sein wird.

Trotzdem ist Bashr Dost, ein Abgeordneter aus der Provinz Kabul, optimistisch. Er ist überzeugt davon, dass diese Schwierigkeiten überwunden werden können, "wenn wir an die nationalen Interessen, nationalen Emotionen und nationalen Visionen Afghanistans denken."

Konfliktpunkte gibt es allerdings viele. Wer soll etwa den Posten des Parlamentspräsidenten bekommen. 15 Kandidaten, darunter drei Frauen, bewerben sich für dieses Amt. Yunus Qanuni, Sprecher der "Nationalen Verständigungsfront", ist sich sicher, dass er der geeignete Kandidat sei. Qanuni, ein Tadschike und eloquenter Vertreter des gemäßigten Islam, glaubt, die Unterstützung von über 55 Prozent der Parlamentarier gewonnen zu haben. "Das macht uns noch sicherer, dass wir bei der Wahl des Parlamentspräsidenten mit noch größerer Zustimmung rechnen können."

Safia Sediqi, eine engagierte paschtunische Abgeordnete aus der Provinz Nangarhar, widerspricht Qanuni: "Ich würde nicht sagen, dass er [Qanuni] innerhalb des Parlaments einen großen Einfluss hat. Denn die Abgeordneten sind die gewählten Vertreter der afghanischen Nation. Sie sind aus allen Ecken und Regionen des Landes hierher gekommen. Meiner Ansicht nach hat jeder Abgeordnete seinen eigenen Einflussbereich."

Schwierige Kabinettsbildung

Präsident Hamid Karsai, der angesichts des präsidialen Systems eine besonders herausgehobene Machtposition besitzt, hat es nun mit einem in viele politische Lager zersplitterten Parlament zu tun. Auf der Suche nach parlamentarischen Mehrheiten muss der Präsident - ein moderater Paschtune - nun vielen Gruppen Zugeständnisse machen.

Auch die Kabinettsbildung wird sich als schwierig erweisen, der unter Druck geratene Präsident muss nicht nur überzeugende Kandidaten präsentieren, sondern auch auf eine angemessene Vertretung der Volksstämme achten.

Das neue afghanische Parlament, in das nun alle ethnischen und politischen Kräfte eingebunden sind, wird ein Stimmungsbarometer dafür sein, inwieweit das neue Afghanistan in der Lage ist, Konflikte auf politischem Weg zu lösen.

Said Musa Samimy

DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005

Qantara.de

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