Deutsch-französische Perspektive

Die Soziologin Nikola Tietze forscht zu Identitätsformen von Muslimen in Deutschland und Frankreich. Susan Javad hat sich mit ihr über den unterschiedlichen Umgang mit dem Islam in beiden Ländern unterhalten.

Nikola Tietze; Foto: Susan Javad
Nikola Tietze: "Von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist ein Muslim automatisch auch Ausländer"

​​Wie kam Ihnen der Gedanke, zum Thema "Islam" und "Muslime" in Deutschland und Frankreich zu forschen?

Nikola Tietze: Mich hat zunächst die Frage, wie man mit Differenz und Fremdheit umgeht, interessiert. Als ich in den neunziger Jahren nach Frankreich kam, fiel mir auf, dass die Debatte hier, anders als in Deutschland, nicht um das Gegensatzpaar Ausländer-Inländer kreiste, sondern konkret den Islam thematisierte.

Ich fand es spannend, nicht mehr von In- bzw. Ausländern zu sprechen, sondern spezifische Fragen und Themen zu diskutieren und gleichzeitig klar zu stellen: "Wir sind alle Franzosen". Hiervon ausgehend hat sich mein Interesse für den Umgang mit dem Islam in beiden Ländern entwickelt.

In Frankreich gab es hierzu bereits eine Fülle an Literatur, wohingegen in Deutschland zu dieser Zeit nur wenig zu diesem Thema veröffentlicht worden war. Und wenn doch, dann immer im Sinne von "Die Türken und ihre Religion" und nie allgemeiner.

Inwiefern unterscheidet sich das Verhältnis der deutschen bzw. der französischen Mehrheitsgesellschaft zu den Muslimen?

Tietze: Von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft – und das ist in Frankreich meiner Meinung nach anders – ist ein Muslim automatisch auch Ausländer und wird, selbst wenn er die deutsche Staatsbürgerschaft hat, noch als solcher wahrgenommen.

Außerdem werden kulturelle Unterschiede in Deutschland sehr viel stärker thematisiert als in Frankreich. Niemand nähme es sich hier heraus, im alltäglichen Umgang Fragen nach der Religion oder Ähnlichem zu stellen und dies dann zu problematisieren.

Insofern erleichtert die französische Gesellschaft ein Sich-Zugehörig-Fühlen. In Deutschland hingegen werden vor allem die trennenden Aspekte betont.

Bleibt ein Muslim in Deutschland also immer Ausländer?

Tietze: In dieser Hinsicht gibt es ein Missverständnis, denn auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft ist diese Wahrnehmung tatsächlich dominant, doch für viele Muslime stellt sich das anders dar.

Wenn jemand der zweiten Einwanderergeneration sich auf Nachfrage beispielsweise in Deutschland als Muslim beschreibt, ist das für mich eher ein Zeichen dafür, dass er eigentlich sagt: "Ich bin eben nicht mehr Ausländer". Die Staatsangehörigkeit tritt damit in den Hintergrund und man kann aus so einer Aussage auch heraushören: "Ich bin Muslim – in Deutschland".

Ein Beispiel: Für meine gegenwärtige Forschungsarbeit habe ich in Hamburg Interviews mit Muslimen gemacht. Diese waren im islamischen Hochschulverband und einem islamischen Frauenverband organisiert. Von meinen Gesprächspartnern haben fast alle von sich aus die deutsche Sprache als das Einheitsmoment der islamischen Gemeinschaft in Hamburg beschrieben.

Eine Frau sagte mir im Interview sogar, dass sie am liebsten auf Deutsch über den Islam lese, denn das Deutsche sei ihre "Wohlfühlsprache".

Das Beispiel zeigt für mich, dass es diesen Muslimen vor allem um Glaubensfragen geht und eben nicht mehr darum, dass sie türkischer oder sonstiger Herkunft sind.

Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch die anderen gibt, bei denen die ursprüngliche Staatsangehörigkeit im Vordergrund steht und die sich durch Religion von der deutschen Mehrheitsgesellschaft abgrenzen wollen.

Ist Frankreich mit der Integration "seiner" Muslime also weiter als Deutschland?

Tietze: Frankreich war natürlich durch seine Kolonialvergangenheit sehr viel früher mit dem Thema konfrontiert als Deutschland und hat sich insofern früher mit dem Thema auseinandergesetzt.

Aber auch die Definition des Staatsbürgerrechts spielt eine ganz wichtige Rolle. So haben die meisten Muslime in Frankreich bereits seit langem die französische Staatsbürgerschaft. Wenn sie hier geboren wurden, erhielten sie sie quasi automatisch.

Damit stellte sich die Frage "was machen wir mit den Muslimen" immer unter der Prämisse "es sind Franzosen". Und es gilt wenigstens theoretisch die republikanische Devise: "Wenn ihr eure kulturellen und religiösen Besonderheiten nicht in den öffentlichen Raum tragt, ist der soziale Aufstieg, d.h. Integration, auch für euch möglich."

In Deutschland hat sich diese Frage der Integration eigentlich erst im Jahr 2000 mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts gestellt. Erst seit diesem Zeitpunkt waren alle in Deutschland lebenden Muslime potenzielle Staatsbürger.

Bis dahin hat man die Verantwortung, z.B. die Imamausbildung oder den Religionsunterricht betreffend, immer den Ländern überlassen, aus denen die Muslime eingewandert waren.

Steinewerfender Demonstrant; Foto: AP
Bei den Protestaktionen Ende 2005, Anfang 2006 in Frankreich, kam es immer wieder zu Gewaltausbrüchen in den Banlieues.

​​Trotzdem scheint in Frankreich ja etwas schief gelaufen zu sein. Oder wie lassen sich die Unruhen in den Vorstädten 2005 erklären?

Tietze: Dass sich Frankreich früher mit dem Thema auseinandergesetzt hat, heißt natürlich nicht, dass alles richtig gemacht wurde.

Ich glaube, dass das, was da passiert ist, sehr wichtig für die französische Gesellschaft ist, weil es auf einmal viele seit langem gärende soziale Probleme offengelegt hat. Mit den französischen Muslimen oder dem Islam hatten diese Ereignisse jedoch ziemlich wenig zu tun.

In den Aufständen zeigt sich zunächst das Scheitern des französischen Integrationsideals, das Integration vor allem sozio-ökonomisch definiert. Der soziale Aufstieg funktioniert unter den heutigen Rahmenbedingungen – anders als über lange Zeit - nicht mehr.

Ganz plastisch zeigt sich das in der Stadtstruktur, im Verhältnis der Stadt zu den Vorstädten, die immer weiter aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben des Zentrums verdrängt wurden.

Diejenigen, die da verdrängt wurden, haben sich schließlich – ziemlich lautstark, gewalttätig und ungeschickt – zurückgemeldet. Die Ereignisse wurden dann im Nachhinein "ethnisiert" und politisch instrumentalisiert.

So hat beispielsweise Innenminister Sarkozy mit vielen seiner Kommentare noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen.

Könnten sich ähnliche Szenen in Deutschland abspielen?

Tietze: Ich bin kein Orakel, aber so aus dem Bauch heraus würde ich das verneinen. Die Konfrontation zwischen "den Jugendlichen" und "dem Staat" wäre in Deutschland, alleine wegen des föderalen Aufbaus, so gar nicht möglich.

In Deutschland spielt sich viel mehr auf der Länderebene, wenn nicht sogar auf kommunaler Ebene ab, und für Proteste gäbe es somit mindestens sechzehn Ansprechpartner.

Auch gibt es in deutschen Städten kaum diese Polarisierung zwischen Stadtzentrum und Vorstadt, die in Frankreich ganz maßgeblich zum Phänomen der Unruhen beigetragen hat.

In den letzten Jahren ist in Deutschland oft die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wertekonsenses betont worden. Wieviel Gemeinsames brauchen wir Ihrer Meinung nach, und vor welcher Herausforderung stehen die deutschen Muslime?

Tietze: Ich erlebe diese Debatte in Deutschland als ziemlich lähmend und sich selbst blockierend. Ständig geht es um "gemeinsame Werte", und jede Partei unterstellt der anderen, sie habe die jeweiligen Werte falsch verstanden oder würde diesen nur scheinbar zustimmen.

Man manövriert sich in eine Sackgasse, wenn man immer wieder "christliche" Werte "islamischen" gegenüberstellt. Selbst die so leidenschaftlich geführte Diskussion, um Kopftuch tragende Lehrerinnen an deutschen Schulen, bringt uns doch so keinen Schritt weiter.

Wenn es darum geht, eine politische Gemeinschaft zu definieren, wie es ja Deutschland, Frankreich oder auch die Europäische Union sind, macht es meiner Meinung nach wenig Sinn, Werte in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen. Stattdessen erscheint es mir sinnvoller, von Rechten zu sprechen und z.B. die Frage nach Religionsfreiheit zu diskutieren: Was ist Religionsfreiheit, wie weit geht sie und wo ziehen wir die Grenze?

Die politische Gemeinschaft über Rechte zu definieren garantiert natürlich nicht, dass so etwas, wie die Unruhen in Frankreich 2005, nicht passieren kann. Analysiert man diese jedoch aus der Perspektive der Rechtsansprüche und der Erfüllung bzw. Nichterfüllung dieser Rechtsansprüche, dann bekomme ich das Phänomen nicht nur analytisch besser in den Griff, sondern kann auch anders als mit demagogischen Diskursen darauf antworten.

Für Deutschland ist diese Diskussion eine wirkliche Herausforderung, die sich an alle richtet – nicht nur an die Muslime.

Interview: Susan Javad

© Qantara.de 2007

Nikola Tietze ist Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie hat über Identitätsformen deutscher und französischer Muslime promoviert und erhielt für ihr bei der Hamburger Edition verlegtes Buch "Islamische Identitäten" 2003 den Norbert-Elias-Preis.

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