Filmkunst jenseits des "Tals der Wölfe"

Nach dem Eklat um den Film "Tal der Wölfe" zeigt das diesjährige türkische Filmfestival in Nürnberg, dass türkisches Filmschaffen auch entspanntere und kreativere Seiten hat. Von Amin Farzanefar

Nach dem Eklat um den Film "Tal der Wölfe" zeigt das diesjährige türkische Filmfestival in Nürnberg, dass türkisches Filmschaffen auch entspanntere und kreativere Seiten hat. Amin Farzanefar berichtet

Semih Kaplanoglus "Melegin Düsüsü - der Fall des Engels" ist der Vertreter des neuen türkischen Independent-Films, der aus der Geldnot eine Tugend macht und mit einer verknappten, minimalistischen Filmsprache engagierte Themen umsetzt.

Mit dieser Ästhetik hatte 2003 Nuri Bilge Ceylans "Uzak" den Jurypreis in Cannes erhalten; ein Film, der die passenden Bilder für die Sprachlosigkeit in der neokapitalistischen Türkei fand.

Auch Kaplanoglus asketische, symbolische Erzählweise entspricht der seelischen Unzugänglichkeit seiner Protagonistin: eine junge unscheinbare Frau, die der Hölle des väterlichen Missbrauchs durch eine schreckliche Befreiungstat entkommt – aber dadurch einen neuen Zugang zum Leben, zum eigenen Körper findet.

Tabuthemen auf der Leinwand

Dass sich das neue türkische Kino solch tabuisierten Themen wie Inzest zuwendet, spricht für dessen Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik.

Am anderen Ende der Skala steht "Hacivat und Karagöz", eine bunte Historienkomödie mit Anleihen bei Monthy Python. Zwei zentrale Figuren des traditionellen türkischen Schattentheaters, bekannt wie hierzulande das Kasperle, werden von Regisseur Izzel Akkay ins Mittelalter geschickt, mitten in das Ränkespiel zwischen machthungrigen Seldschuken und Mongolen.

Ebenso wie die aktuellen Kassenschlager "Vater und Sohn" oder eben "Tal der Wölfe" wird auch "Hacivat und Karagöz" von Maxximum-Film verliehen und steht damit für ein gefühlsbetontes, oft lautes Mainstream-Kino, das in Deutschland wie in der Türkei ständig neue Besucherrekorde verzeichnet.

Der Stand der türkischen Mediengesellschaft lässt sich auch an der Entwicklung neuer Genres ablesen: Vor kurzem war G.O.R.A eine zotige Science-Fiction-Persiflage à la "Traumschiff Sürprise", nun schickt Akkay seinen Karagöz durch eine mit Spezialeffekten, Massenszenen und Action-Choreographie fast hollywoodartig aufgepeppte Kulisse.

Und entsprechend der fortschreitenden Verstädterung konzentrieren sich die neueren Produktionen verstärkt auf Istanbul: Wo noch vor einigen Jahren gerne im Hinterland feudalismuskritische Dramen oder auch folkloristische Schmonzetten gedreht wurden, überwiegt nun die städtische Kulisse Istanbuls, das als hippe, aber harte Stadt am Bosporus inszeniert wird: Etwa in "Iki genc Kiz/Two Girls", einem rasanten, wilden Jungmädchendrama von Kutlug Ataman.

Der einzige bekennend homosexuelle türkische Filmemacher, dessen Schwulendrama "Lola und Bilidikid" in Berlin spielte, inszeniert jetzt seine lesbisch angehauchte Geschichte von Freundschaft und Freiheitsdrang mit einer wilden Energie irgendwo zwischen "Thelma und Louise", "Butterfly Kiss", "Baise Moi".

Think positive

Die Podiumsgespräche eröffnete Moderator Ludwig Ammann dann doch mit "Tal der Wölfe" – vergeblich: Während Regissseur Ali Özgentürk sich schon vor der Diskussion abgemeldet hatte, versuchte sich Schauspieler Aslantug in Schönfärberei und wollte nur über "Positives" reden. Jurymitglied und ARTE-Redakteur Alexander Bohr kritisierte den Skandalfilm, reichte aber keinen Schwarzen Peter an die Türken weiter.

Stattdessen fragte er zurück, wie viele Werke des europäischen Filmkanons denn über moralische Anfechtungen erhaben seien: Eisenstein etwa war Propagandist und Handlanger des Stalinismus mit Millionen von Opfern.

Ergiebiger, weil konkreter: Der deutsch-türkische Filmemacher Thomas Arslan sprach mit Semih Kaplanoglu über die Achse Berlin-Istanbul, über das Drehen mit Laiendarstellern/innen und über Risiken und Nebenwirkungen der neuen Digitaltechnik.

Fahrten ohne Reiseführer

Am Vorabend hatte Arslans Dokumentation "Aus der Ferne" zu einer langen Diskussion geführt, der Berlinale-Beitrag thematisierte die erste Türkeireise des Filmemachers nach zwanzigjähriger Abwesenheit.

Die langen Einstellungen, in denen dieser die Impressionen seiner Fahrt von West nach Ost einfing, werden kaum durch einen erklärenden oder zuweisenden Kommentar aufgelockert.

So wirkte dieser statische, nüchterne Blick auf das Land, auf die Türken/innen im Basar, in der Schule, beim Exerzieren oder beim Busfahren zwar intensiv, visuell beeindruckend, doch unbefriedigend.

Eine Zuschauerin warf dem um Differenzierung bemühten Arslan vor, die alten Klischees eines "archaischen Landes" zu wiederholen, mehrere kritisierten mangelnde Objektivität, weil er am Ende seiner langen Reise den Völkermord an den Armeniern ins Spiel brachte. Harte Kritik also aus sehr verschiedenen Richtungen: "Das ist immer so bei meinen Filmen", kommentiert Arslan augenzwinkernd.

Im Kinosaal, auf dem Podium und hinterher im Zuschauerraum: Der deutsch-türkische Dialog und auch sein gelegentliches Scheitern fand in Nürnberg auf sehr hohem Niveau statt. Das wünscht man sich hinsichtlich der Diskussionen um den EU-Beitritt der Türkei auch anderswo.

Amin Farzanefar

© Fluter.de 2006

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