Mäandernde Reflexionen

Nach den "Mohammedanischen Versuchungen" hat der renommierte Übersetzer und Herausgeber arabischer Literatur Stefan Weidner einen zweiten Prosaband herausgegeben, in dem er eine Reise nach Marokko literarisch verarbeitet. Lewis Gropp hat ihn gelesen.

​​Es ist eine Pointe aus bitterer Ironie, dass das Interesse westlicher Medien an den islamischen und arabischen Kulturen nicht zuletzt durch den Terror vom 11. September angestoßen wurde. Unter dem zunehmenden Druck, Inhalte zu dem Medienthema zu produzieren, haben sich Autoren im Schnellverfahren zu Experten ausbilden lassen.

Stefan Weidner, Jahrgang 1967, ist allerdings nicht auf einen fahrenden Zug aufgesprungen – er war vielmehr bereits im Alter von 17 Jahren auf eigene Faust im Maghreb auf Bildungsreise.

Der Islamwissenschaftler hat sich bald zielstrebig Meriten als Herausgeber und Übersetzer arabischer Literatur verdient; unter anderem hat er zwei der bedeutendsten zeitgenössischen arabischen Lyriker ins Deutsche übertragen – den Palästinenser Mahmoud Darwisch und den Syrer Adonis.

Als Herausgeber des anspruchsvollen, vom Goethe-Institut herausgegebenen Dialogmagazins Fikrun wa Fann ist der in Köln ansässige Weidner einer der zentralen Mediatoren zwischen arabischem und deutschem Kulturraum.

Scheinbar zielloses Treiben

Vermutlich zieht es aber wohl jeden echten homme de lettre irgendwann zur eigenen Prosa-Autorschaft, und so hat Weidner nach den mit dem Brentano-Preis ausgezeichneten "Mohammedanischen Versuchungen" von 2004 nun einen zweiten erzählerischen Band vorgelegt, "Fes – Sieben Umkreisungen".

Der Untertitel ist den sieben Umkreisungen entlehnt, die ein Mekka-Pilger um die Heilige Kaaba vollziehen soll. Eine Pilgerfahrt erfordert die Fähigkeit zur Sammlung und Konzentration; Weidners Erzählung bietet mit "Fes" indessen das Gegenteil: Scheinbar ziellos treibt R., der Protagonist, in seiner eigenen Geschichte.

Ob er denn wohl gegen seine Überzeugungen gehandelt habe, fragt sich R. in der fünften Umkreisung. "Aber nein", antwortet er sich selbst, "er hat ja keine." An anderer Stelle heißt es: "Er kramt in seinen Identitäten und biographischen Epochen, in welcher hat er sich unlängst befunden?"

Ähnlich orientierungslos, wie die Hauptfigur von "Fes" durch den Maghreb zieht, so unentschlossen ist auch die gesamte Dramaturgie konzipiert – ein Sinnzentrum (eine Kaaba), geschweige denn eine dramatische Gestaltung gibt es bei diesen sieben "Umkreisungen" nicht.

Ambivalenz des Genres

Freilich funktionieren manche literarischen Texte auch ganz ohne Dramaturgie – und das gilt insbesondere für Reiseliteratur, die sich in der Regel eher durch stilistische Eleganz und individuelle Beobachtungsgabe auszeichnet. Welches Genre soll man nun aber den "Sieben Umkreisungen" zuordnen?

Weidner nimmt sich die Freiheit, sich nicht festzulegen. Die "Mohammedanischen Versuchungen" ließ er als "Erzählerischen Essay" publizieren. "Fes" ist ähnlich ambivalent angelegt:

Einerseits wird eingangs erklärt, dass es sich hierbei um "eine literarische Fiktion" handele; andererseits wird in dem Buch auch der Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt, der die reale Reise und das deutsch-marokkanische Dichtertreffen beschreibt, welche Ausgangspunkt des Textes sind.

Das Problem, das Helmut Böttiger bereits in der Zeit für die "Mohammedanischen Versuchungen" diagnostiziert hatte, gilt auch für "Fes" – dass sich nämlich der Autor im Zweifel so auf die eigene Subjektivität als entscheidende Instanz zurückziehen kann, "zugleich aber immer einen objektiven Anspruch mitformuliert".

Fiktion oder Phantasie?

Wenn Weidner beispielsweise den marokkanischen Intellektuellen Ahmad Nassib über die Geschichte des maurischen Spanien sinnieren lässt – entsprechen seine Äußerungen dann recherchierten historischen Tatsachen oder eher nicht? Und wenn die Lebens- und Arbeitsumstände der chinesischen Gastarbeiter in Algerien beschrieben werden – wie lassen sich hier Fakten und Fiktion auseinander halten?

Zwar kann man davon ausgehen, dass der wiedergegebene Lebenslauf von Ibn Khaldun und seine Thesen vom "zyklischen Charakter des Weltgeschehens" nicht fiktionalisiert wurden, und auch die mit lakonischer Ironie zitierten Kapitelüberschriften aus dessen Einführung in die Weltgeschichte ("25. Kapitel: Die Länder, die von den Arabern erobert werden, sind schnell ruiniert." – "27. Kapitel: Die Araber können nicht regieren.") werden getreu wiedergegeben sein.

Doch auch diese Passagen hinterlassen aufgrund der vermeintlichen Fiktionalität des Textes einen vagen Eindruck ohne Nachhaltigkeit, der sich schnell wieder verflüchtigt.

Stilblüten

Insgesamt wirkt das Buch, als ob es in zu großer Hast zusammengestellt wurde. Möglicherweise haben Autor und Verleger nach dem größtenteils positiven Feuilletonecho auf die "Mohammedanischen Versuchungen" und dem renommierten Brentano-Preis 2006 schnell nachlegen wollen. Zumindest aber haben sich stilistische Eigenheiten eingeschlichen.

Der Traum, "dessen Geschmack ihm noch auf der Zunge der Seele liegt", erinnert je nach Lesart gegebenenfalls noch an Goethes "Grau, Freund, ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldner Baum". Doch an anderer Stelle ist zu lesen: "Die Bahnstrecke zwischen Casablanca und Rabat (...) ist eine Kette auf der Halshaut der Küste, und ihre Perlen sind Öltanks und Raffinerien." Diese kühne Metaphorik hätte sicher nicht jeder Lektor ohne Protest durchgewinkt.

Man muss Stefan Weidner zugute halten, dass er auf seiner Reisebeschreibung Land, Leuten und Kultur mit unvoreingenommenem Interesse und ohne jeglichen Kultursnobismus begegnet. Dabei offenbart "Fes" einen tief sitzenden Skeptizismus, der den Autor vor weltanschaulichen Entgleisungen bewahrt.

Möglicherweise war es aber auch gerade dieser Skeptizismus, der Weidner davon abgehalten hat, seinen "Umkreisungen" eine entschlossenere inhaltliche Spannung und eine markantere stilistische Form zu verpassen.

Lewis Gropp

© Qantara.de 2006

Stefan Weidner, "Fes – Sieben Umkreisungen", Ammann Verlag, Zürich 2006, 205 S., 19,90 Euro.

Qantara.de

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Zweimal hatte die "Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung" arabische Poeten nach Deutschland eingeladen. Nun waren deutsche Lyriker in Rabat zu Gast. Stefan Weidner über die Schwierigkeiten der Annäherung und über Missverständnisse.

Stefan Weidner
"Mohammedanische Versuchungen"
"Mohammedanische Versuchungen" nennt Stefan Weidner, Autor und Übersetzer aus dem Arabischen, seine Auseinandersetzung mit der islamischen Kultur, die ihn schon als Jugendlichen faszinierte. Christoph Vormweg hat mit ihm gesprochen.

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