Erfolgsgeschichte und politischer Wandel

Sicherheitspolitische Faktoren und demografische Prozesse stellen heute die größten Herausforderungen für die israelische Demokratie dar. Eine Analyse von Martin Beck

Offizielle Feiern zum Unabhängigkeitstag in Jerusalem; Foto: AP
Trotz der politischen Erfolgsgeschichte stellt der ungelöste Nahostkonflikt bis heute eine der größten Belastungen für Israel dar.

​​Nur wenige Länder haben wie Israel den Sprung von einer Entwicklungsgesellschaft zu einer Hightech-Ökonomie geschafft. Israel beeindruckt aber nicht nur durch rein wirtschaftliche Erfolge:

Im Human Development Index, der den menschlichen Entwicklungsstand misst, belegte Israel im Jahre 2005 unmittelbar hinter Deutschland einen beachtlichen 23. Platz. Die politische Erfolgsgeschichte lässt sich auf den Nenner bringen, dass Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten ausgebildet hat.

Doch in den Bereichen Wirtschaft und Politik steht Israel vor neuen Herausforderungen. So hat das Land durch eine Liberalisierungspolitik zwar seine produktiven Potenziale entfaltet, gleichzeitig aber ist der ehemals starke Sozialstaat erodiert.

Dies wirkt sich in ungleicher Einkommensverteilung und unterschiedlichen Bildungschancen aus. Dabei hängt der Grad der Betroffenheit stark von der Zugehörigkeit zu ethnischen und weltanschaulichen Gruppen ab.

Einer im März 2008 von der Bank of Israel veröffentlichten Studie zufolge handelt es sich bei den 60 Prozent der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze leben, um zwei in sich weitgehend geschlossene Minderheiten: palästinensische – meist muslimische – und ultraorthodoxe jüdische Israelis.

Sicherheitspolitische Faktoren

Abgesehen von den politischen und sozialen Herausforderungen sind zweifellos jene im Bereich der Sicherheit noch größer. Israel hat nur mit Ägypten 1979 und mit Jordanien 1994 Frieden schließen können. Bis heute prägt der Sechstagekrieg von 1967 den Nahen Osten.

Sechs-Tage-Krieg 1967 - israelische Truppen an der Klagemauer; Foto: dpa
Schatten der Vergangenheit - bis heute prägt der Sechstagekrieg von 1967 den Nahen Osten.

​​Zwar gibt es in Israel eine grundsätzliche Bereitschaft, die von den arabischen Staaten eroberten Gebiete (mit Ausnahme Ostjerusalems) in Verhandlungsprozessen als "territoriales Faustpfand" einzusetzen. Die PLO wurde aber in den 1970er und 1980er Jahren als Verhandlungspartner strikt abgelehnt.

Zwar gelang ein Friedensschluss mit Ägypten, die Friedenssicherung in den palästinensischen Autonomiegebieten und die Marginalisierung der PLO wurden jedoch verfehlt: Die Ende 1987 ausgebrochenen Intifada verdeutlichte, dass sich die palästinensische Bevölkerung mit dem von der PLO propagierten Ziel, einen palästinensischen Staates zu errichten, identifizierte.

Historische Zäsur: die Osloer Friedensabkommen

Dies führte zu einem Politikwechsel: Im Rahmen des Osloer Friedensprozesses erkannte Israel die Palästinenser als eigenständiges Volk an. Die Hoffnungen auf eine friedliche Beilegung des Konfliktes erfüllten sich indes nicht.

Durch eine weitere Erhebung (Al-Aqsa-Intifada) kündigten die von der Realität des Friedensprozesses frustrierten Bewohner der besetzten Gebiete diesen im Jahre 2000 "von unten" auf. Obwohl etliche der in Oslo geschaffenen Strukturen fortbestehen, hat sich die sicherheitspolitische Lage Israels nachhaltig verändert.

Nach Ausbruch der zweiten Intifada nahmen militante Angriffe in den besetzten Gebieten und im israelischen Kernland zu. Gegenmaßnahmen, wie insbesondere der Bau der Sperranlage im Westjordanland, trugen zwar zu deren Rückgang bei.

Der im September 2005 vollzogene einseitige Abzug aus dem Gazastreifen war aber weniger effektiv als erhofft. Gegen die Angriffe der Qassam-Raketen gibt es bis heute für Israel keinen sicheren Schutz.

Besatzung, Ökonomie und Demografie

Die Bedeutung der sicherheitspolitischen Problemlage zeigt sich erst vor dem Hintergrund ihrer Wirkung auf Ökonomie und Politik. Ende der 1980er Jahre sorgten zunächst die wirtschaftlichen Nachteile der Besatzungspolitik für eine Politisierung:

Ministerpräsident Rabin verdankte seinen Wahlerfolg 1992, der den Osloer Prozess überhaupt erst ermöglichte, auch der Überzeugung vieler Israelis, dass die Siedlungspolitik auf Kosten sozialpolitischer Leistungen ging.

Palästinensische Jugendliche werfen Steine gegen Polizisten in der Jerusalemer Altstadt; Foto: AP
Ariel Scharons Visite auf dem Tempelberg im September 2000 bildete den Auftakt für die Al-Aqsa-Intifada.

​​Im positiven Sinne verstärkte sich diese Wahrnehmung in den 1990er Jahren, als Israel durch die Verständigung mit der PLO einen nie gekannten Schub ausländischer Investitionen erfuhr. Doch der Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada führte schließlich zu einer massiven Rezession, der Israel nur durch eine drastische Austeritätspolitik Herr wurde.

Insbesondere in linksliberalen Kreisen spielte die Frage der demokratiepolitischen Problematik der Besatzung bereits im Vorfeld des Osloer Friedensprozesses eine wichtige Rolle, hat sich als "demografischer Faktor" inzwischen aber auch einen Platz auf der Agenda der "Kadima", der seit 2006 von Ministerpräsident Olmert geführten Partei der rechten Mitte, erobert.

Bevölkerungsbewegungen innerhalb Israels und der besetzten Gebiete

Angaben des Israelischen Zentralbüros für Statistik (CBS) zufolge lebten in Israel Ende 2006 knapp 5,4 Millionen Juden und 1,4 Millionen Araber. Ende 2005 belief sich nach Angaben des Palästinensischen Zentralbüros für Statistik (PCBS) die Zahl der Palästinenser, die im "historischen Palästina" lebten (d.h. im israelischen Kernland und in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten), auf 4,9 Millionen.

Einer vom israelischen Begin-Sadat Center for Strategic Studies (BESA) durchgeführten Analyse zufolge lag die palästinensische Bevölkerungszahl der besetzten Gebiete im Jahre 2004 allerdings mit lediglich 2,5 statt 3,8 Millionen deutlich niedriger.

Durch den Zensus von 2007 sah sich das PCBS in seinen Angaben jedoch weitgehend bestätigt. Während das BESA selbst noch für das Jahr 2025 eine jüdische Mehrheit im historischen Palästina prognostiziert, geht das PCBS davon aus, dass die palästinensische Bevölkerung in Israel und den besetzten Gebieten bereits im Jahre 2010 mit der jüdischen Bevölkerungszahl Israels gleichziehen und diese fortan überflügeln werde.

Frage nach der demokratischen Verfasstheit

Unabhängig davon, ab wann genau von einer palästinensischen Mehrheit im historischen Palästina auszugehen ist, verweist die Debatte auf ein seit der Besatzungspolitik 1967 wachsendes herrschaftspolitisches Problem.

Selbst wenn die palästinensischen Bürger Israels völlig andere politische Ambitionen haben als die Palästinenser der besetzten Gebieten, so missbilligen doch beide Gruppen die Politik Israels in einigen zentralen Punkten:

Die Bewohner Ostjerusalems, des Westjordanlands und des Gazastreifens wenden sich gegen die Besatzungsherrschaft, und die israelischen Palästinenser stören sich am zionistischen Staatskonzept, dem zufolge Israel ein jüdischer Staat ist.

Dies bedeutet, dass im heutigen Israel wie es seit 1967 besteht (einschließlich der besetzten Gebiete), der Staat bei einer Bevölkerungsminorität, die in absehbarer Zeit jedoch zur Mehrheit werden könnte, keine oder nur eine eingeschränkte Legitimität besitzt.

Damit bleiben die sicherheitspolitischen Faktoren, die Besatzung und die ökonomischen Schwierigkeiten bis heute untrennbar mit der Frage nach der demokratischen Verfasstheit Israels verknüpft.

Martin Beck

© Qantara.de 2008

PD Dr. Martin Beck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für "Nahost-Studien" am GIGA, Hamburg. Zugleich ist er Privatdozent an der Universität Hamburg. Im Wintersemester 2007/08 vertrat er eine Professur für Internationale Beziehungen an der Universität Bremen.

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