Muktada al-Sadrs Kampf um Mehrheiten 

„Bei seinen Bemühungen, das Land in eine bessere Zukunft zu führen, steht Al-Sadr vor vielen Herausforderungen. Selbst wenn es ihm gelänge, eine Mehrheit für eine Regierung zu bilden, werden weitere Veränderungen nur schwer zu erzielen sein. Reformen sind im Irak eine gewaltige Aufgabe, die enorme Anstrengungen verlangt. Bestimmte Reformen könnten sich über Jahrzehnte hinziehen,“ schreibt Massaab al-Aloosy.
„Bei seinen Bemühungen, das Land in eine bessere Zukunft zu führen, steht Al-Sadr vor vielen Herausforderungen. Selbst wenn es ihm gelänge, eine Mehrheit für eine Regierung zu bilden, werden weitere Veränderungen nur schwer zu erzielen sein. Reformen sind im Irak eine gewaltige Aufgabe, die enorme Anstrengungen verlangt. Bestimmte Reformen könnten sich über Jahrzehnte hinziehen,“ schreibt Massaab al-Aloosy.

Der schiitische Geistliche Muktada al-Sadr strebt als klarer Sieger der Parlamentswahlen im vergangenen Herbst umfassende Veränderungen im Irak an. Doch Reformen lassen sich leichter versprechen als umsetzen. Von Massaab al-Aloosy

Von Massaab al-Aloosy

Die fragile Lage des Irak und seine stetig wachsenden Problemen sind leider nichts Neues. In drei Jahrzehnten hat das Land drei verheerende Kriege sowie internationale Sanktionen, konfessionelle Auseinandersetzungen und Einflussnahme aus dem Ausland erlebt. Als 2003 die Statuen von Saddam Hussein fielen, befand sich der Irak in einer verheerenden Lage. Damals wurden Wetten darauf abgeschlossen, dass das Land entlang konfessioneller und ethnischer Linien zerfallen würde. Zwar trotzte der Irak diesen Tendenzen, er bleibt aber bis heute ein fragiler Staat am Rande des Scheiterns

Muktada al-Sadr, ein schiitischer Kleriker, der bei den Parlamentswahlen im vergangenen Herbst 73 von 325 Sitzen im Abgeordnetenhaus gewinnen konnte, verspricht dennoch einen umfassenden Wandel. Al-Sadr will mit der politischen Tradition brechen, nach jeder Wahl eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, in der alle Parteien als Vertreter der verschiedenen Konfessionen, Ethnien und Religionen ihr Stück vom Kuchen abbekommen. Denn dieses politische Arrangement gilt als eine der Hauptursachen für Korruption und soziale Spaltung

Al-Sadr will stattdessen eine Regierung unter seiner Führung bilden, die die Umsetzung dringend nötiger Reformen in Angriff nehmen kann – von der Kontrolle renitenter Milizen bis zur Korruptionsbekämpfung. Darüber hinaus will er die Einflussnahme aus dem Ausland zurückdrängen, vor allem aus dem Iran, und dafür sorgen, dass das Land bei regionalen Konflikten neutral bleibt. Doch wird er damit Erfolg haben?  

Eine Herkulesaufgabe 

Bei seinen Bemühungen, das Land in eine bessere Zukunft zu führen, steht Al-Sadr vor vielen Herausforderungen. Selbst wenn es ihm gelänge, eine Regierungsmehrheit zu bilden, würden weitere Veränderungen nur schwer zu erzielen sein. Reformen sind im Irak eine gewaltige Aufgabe, die enorme Anstrengungen verlangt. Bestimmte Reformen könnten sich über Jahrzehnte hinziehen. 

Ein erstes Hindernis ist die Halbwertzeit einer jeden Regierung. Wer das Land auf den richtigen Weg bringen will, muss strategisch vorgehen und sich die Zustimmung der maßgeblichen politischen Akteure sichern. Im Irak sind politische Allianzen notorisch unbeständig. Politischer Konsens ist selten. Etablierte Netzwerke aus Geschäftsleuten, Milizen und Politikern, die allesamt von der Korruption profitieren, widersetzen sich vehement allen Reformen. 

Plenarsitzung in Iraks neuem Parlament am 09.01.2022 in Bagdad, Iraq (Foto: Iraqi Parliament Press Office Handout/Anadolu Agency)
Kann Al-Sadr seine politischen Gegner von seinen Reformplänen überzeugen? Trotz einiger positiver Aspekte der Parlamentswahl vom Herbst 2021, wie beispielsweise der Stärkung unabhängiger Kräfte in mehreren irakischen Provinzen und der Wahlniederlage traditioneller politischer Parteien mit ihren bewaffneten Flügeln, gibt es zahlreiche Hürden auf dem Weg zu Reformen – dazu gehört nicht zuletzt die selbstsüchtige politische Elite des Landes. 

Zunächst einmal müsste Al-Sadr überhaupt einen geeigneten Reformplan ausarbeiten. Doch die Milizen haben bereits ihre Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Parlamentswahl von 2021 und Al-Sadrs Plänen zur Bildung einer Regierung bekundet. Nach den Wahlen kam es sogar zu einem bewaffneten Angriff auf das Haus des Parlamentssprechers.  Al-Sadr konnte zwar die meisten Stimmen auf sich vereinen, aber die Bildung und Verteidigung einer parlamentarischen Mehrheit mit anderen politischen Parteien dürfte – vorsichtig formuliert – eine anspruchsvolle Aufgabe sein. 

Eine weitere Hürde auf dem Weg zu einer Regierungsmehrheit liegt in einem Urteil des Obersten Gerichts zum Wahlprozedere. Danach ist für die Wahl des Präsidenten eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Doch alle Versuche, diese zusammen zu bekommen, sind bislang gescheitert. Al-Sadr kann die erforderlichen Stimmen nicht aufbringen, da die beiden wichtigsten Präsidentschaftskandidaten zu zwei verschiedenen Parteien gehören, die sich gegenseitig blockieren. 

Außerdem ist unwahrscheinlich, dass der Iran in Zukunft auf seinen Einfluss im östlichen Nachbarland verzichten wird. Teheran hat im Januar General Esmail Qaʾani, den Chef der iranischen Quds-Brigaden, mit der Botschaft nach Bagdad geschickt, die Beteiligung seiner Interessenvertreter an der Regierung sicherzustellen. Das engt die Möglichkeiten zur Bildung einer Regierungsmehrheit für Al-Sadr weiter ein.  

Ausufernde Bürokratie 

Ein weiterer Klotz am Bein von Al-Sadr stellt der gewaltige öffentliche Sektor dar, den ihm seine Vorgänger hinterlassen haben. Über Jahrzehnte hat der Staat aus populistischen Gründen immer neue Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor geschaffen und die Bürokratie somit auf ein untragbares Maß aufgebläht. Die öffentliche Hand stellt rund 40 Prozent aller Arbeitsplätze – ein im Vergleich zu anderen Ländern extrem hoher Anteil.

Angesichts der großen Zahl junger Iraker, die auf den Arbeitsmarkt drängen, lässt sich diese Praxis nicht fortschreiben. 60 Prozent der Iraker sind jünger als 25 Jahre, womit der Irak eines der Länder mit dem niedrigsten Durchschnittsalter weltweit ist. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt derzeit bei mehr als 25 Prozent. Da mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt drängen, als Jobs geschaffen werden, nimmt die Jugendarbeitslosigkeit weiter zu. 

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Die Abhängigkeit des Irak vom Öl befeuert diese hohe Arbeitslosigkeit noch. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft machen mehr als 90 Prozent des Staatshaushalts aus. Um den privaten Sektor zu stärken und neue Arbeitsplätze für junge Menschen zu schaffen, bedarf es also eines massiven wirtschaftlichen Umbruchs. Doch eine Voraussetzung für die Investionen internationaler Unternehmen im Irak sind Stabilität und qualifizierte Arbeitskräfte. Dem Land mangelt es aber an beidem. 

Mangel an qualifizierten Arbeitskräften 

Dass qualifizierte Arbeitskräften fehlen, liegt an einem Bildungssystem, das junge Menschen nicht ausreichend auf den globalen Wettbewerb um Arbeitsplätze vorbereitet. Seit Jahrzehnten hat sich das Bildungswesen immer weiter verschlechtert. Das Bildungsniveau von vor dem Zweiten Golfkrieg 1991 ist nie wieder erreicht worden. Die US-Invasion 2003 hat die Situation zusätzlich verschlechtert. Fast 3,2 Millionen irakische Kinder besuchen derzeit keine Schule. Die Hälfte aller Schulen ist beschädigt und muss saniert werden. 

Viele Schulen arbeiten mit Doppelschichten. Die Anzahl qualifizierter Lehrkräfte ist alarmierend geschrumpft. Dies ist alles andere als überraschend, denn das Bildungsbudget wurde über Jahre hinweg stetig gekürzt. Mittlerweile gehört der Irak bei den Investitionen in Bildung zum Schlusslicht im Nahen Osten. Ohne eine ordentliche Schulbildung werden Kinder zur leichten Beute von Milizen und kriminellen Netzwerken, gleichhzeitig sind sie besonders anfällig für Kinderarbeit und Kinderehen. 

Trotz einiger positiver Aspekte der Parlamentswahl vom Herbst 2021, wie beispielsweise der Stärkung unabhängiger Kräfte in mehreren irakischen Provinzen und der Wahlniederlage traditioneller politischer Parteien mit ihren bewaffneten Flügeln, ist der Weg zu Reformen mit zahlreichen Hindernissen versehen. Die derzeitige Krise im Irak hat sich über Jahrzehnte entwickelt. Sie zu lösen erfordert nicht nur einen langfristigen Plan, sondern auch beharrliche Anstrengungen mit einem tiefen Verständnis für die komplexen und vielschichtigen Probleme des Landes. 

Ob Al-Sadr seine politischen Gegner von der Dringlichkeit seiner Reformpläne überzeugen kann, ist fraglich. Leider sieht es eher danach aus, dass der Irak seinen Niedergang fortsetzt, weil es dem Land an einer verantwortungsbewussten politischen Elite fehlt, die bereit wäre, ihre Differenzen zugunsten des öffentlichen Interesses beizulegen.  

Massaab Al-Aloosy 

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