Schlappe für Netanjahu: Oberstes Gericht kippt Kernelement der Justizreform

Die Proteste gegen die umstrittene Justizreform halten an, hier am 5. August 2023
Wochenlang hatten in Israel Zehntausende gegen die umstrittene Justizreform protestiert, hier am 5. August 2023. (Foto: Mostafa Alkharouf/AA/picture alliance)

Jerusalem. Schwere Schlappe für die Regierung von Benjamin Netanjahu: Das Oberste Gericht Israels hat ein zentrales Element der umstrittenen Justizreform für ungültig erklärt. Wie das Gericht am Montag mitteilte, stimmten acht von 15 Richtern gegen eine im Juli vom Parlament verabschiedete Gesetzesänderung zur sogenannten Angemessenheitsklausel. Die Änderung der Klausel sollte dem Obersten Gericht die Möglichkeit nehmen, Entscheidungen der Regierung als "unangemessen" einzustufen und außer Kraft zu setzen. 
 
Das Gericht erklärte, die Klausel sei gekippt worden "wegen des schweren und beispiellosen Schadens für die grundlegenden Charakteristika des Staates Israel als ein demokratischer Staat". Das Parlament hatte das Gesetz zur Einschränkung der Justizbefugnisse im Juli trotz anhaltender Proteste mit knapper Mehrheit verabschiedet. Netanjahus Regierung, eine Koalition aus seiner Likud-Partei und rechtsextremen und ultraorthodoxen Parteien, erachtet die Gesetzesänderungen für notwendig, um die Machtverhältnisse bei der Gewaltenteilung neu zu regeln. 
 
Die Kläger gegen das Gesetz zur Einschränkung der sogenannten Angemessenheitsklausel hatten argumentiert, es schwäche die Justiz als Pfeiler der israelischen Demokratie. Sie befürchten, eine Entmachtung der Justiz könnte einem autoritären Staat den Weg ebnen, da Israel weder über eine Verfassung noch über eine zweite Parlamentskammer verfügt. 
 
Die Pläne der Regierung zum Umbau der Justiz haben das Land tief gespalten. Seit der Vorlage der Reform vor einem Jahr hatten Woche für Woche zehntausende Menschen dagegen demonstriert. Die Massenproteste endeten erst mit dem beispiellosen Überfall der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober. 
 
Israels Justizminister Jariv Levin warf dem Gericht nach der Urteilsverkündung vor, "die ganze Macht für sich in Anspruch zu nehmen". Mit ihrer Entscheidung nähmen "die Richter die ganze Macht in ihre Hände, die in einem demokratischen System auf ausgewogene Weise aufgeteilt ist zwischen den drei Gewalten" Exekutive, Legislative und Judikative, erklärte der Minister im Onlinedienst Telegram. 
 
‘Levin, der Architekt der Justizreform, erklärte, das Urteil "beraubt Millionen Bürger ihrer Stimme". Er kritisierte zudem die Veröffentlichung des Urteils "mitten im Krieg". Dies schade der "notwendigen Geschlossenheit in diesen Tagen für den Erfolg unserer Kämpfer an der Front". Auch Netanjahus Likud-Partei erklärte, es sei "bedauerlich", dass der Oberste Gerichtshof beschlossen habe, sein Urteil zu veröffentlichen, während "rechts- und linksgerichtete Soldaten" kämpften und ihr Leben riskierten. 
 
Oppositionsführer Yair Lapid begrüßte dagegen das Urteil. "Der Oberste Gerichtshof hat seine Aufgabe, die Bürger Israels zu schützen, treu erfüllt, schrieb Lapid im Kurzbotschaftendienst X (früher Twitter). Die Entscheidung "muss respektiert werden", erklärte Benny Gantz, Mitglied des Kriegskabinetts und ehemaliger Rivale Netanjahus, auf X. Er rief zur Einheit auf, "um den Krieg gemeinsam zu gewinnen". 
 
Die Bewegung für gute Regierungsführung, die die Klage gegen die Klausel eingereicht hatte, begrüßte eine "historische" Entscheidung. "Die Regierung und die Minister, die die Justiz umgehen wollten, haben gelernt, dass es in Jerusalem Richter gibt und eine Demokratie mit Gewaltenteilung", erklärte die Bewegung. 

Auch eine der Organisatorinnen der Proteste gegen die Justizreform, Schikma Bressler, begrüßte das Urteil in einem Video. "Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs befreit uns zumindest vorläufig vom Schwert der Diktatur", sagte Bressler. (AFP)