Offensive in Berg-Karabach: Aserbaidschan nutzt geopolitische Lage

Paris. Aserbaidschan verbucht seinen Militäreinsatz in der abtrünnigen Enklave Berg-Karabach als Erfolg. Bereits nach einem Tag legten die pro-armenischen Kämpfer die Waffen nieder. Dabei nutzt Baku die Gunst der Stunde: Armenien ist isoliert, Russland mit seinem Krieg gegen die Ukraine beschäftigt und der Westen schaut weg.



Was war der Grund für die Offensive?



Aserbaidschan möchte die vollständige Kontrolle über Berg-Karabach, eine Enklave in Armenien, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber überwiegend von Armeniern bewohnt ist. Seit Ende des zweiten Krieges 2020 kontrolliert Aserbaidschan Randgebiete von Berg-Karabach, der größte Teil blieb jedoch in der Hand der selbsterklärten Republik Berg-Karabach.



"Aserbaidschan hat ganz klar die Absicht, die derzeitige Situation zu beenden", sagt Marie Dumoulin von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Aserbaidschan und Armenien streiten seit dem Zerfall der Sowjetunion um die Enklave. Nach seiner Niederlage vor drei Jahren forderte Armenien Verhandlungen über den Status der Enklave und die Rechte ihrer Bewohner.



"Offensichtlich ist Baku nicht bereit, über diese Themen zu verhandeln, da es es sie als innere Angelegenheiten betrachtet", sagt Dumoulin. "Aus aserbaidschanischer Sicht handelt es sich um eine Region unter vielen, und ihre Bevölkerung sollte keine anderen Rechte genießen."



Tigrane Yegavian, Forscher am Christlichen Orient-Institut in Paris, fürchtet eine "ethnische Säuberung", die sich gegen die armenische Mehrheit in Berg-Karabach richten wird. "Es wird keine kulturelle Autonomie geben", sagt er. Die armenischen Einwohner hätten künftig "die Wahl zwischen Koffer und Sarg". Baku beteuert hingegen, dass Armenier und Aserbaidschaner einträchtig Seite an Seite in Berg-Karabach leben werden.



Warum jetzt?



Der Angriff "folgt auf eine neunmonatige Blockade Berg-Karabachs (durch Aserbaidschan), die seit Mitte Juni noch verschärft wurde. Die armenische Bevölkerung ist körperlich geschwächt, es fehlt an Lebensmitteln und Medikamenten", schreibt Laurence Broers von der britischen Denkfabrik Chatham House im Onlinedienst X (früher Twitter). "Aserbaidschan ist dabei, Berg-Karabach wie eine reife Frucht zu pflücken", sagt der Forscher Yegavian.



Baku profitiert von günstigen Bedingungen sowohl auf regionaler als auch internationaler Ebene. In der Region ist Aserbaidschan die Unterstützung der Türkei sicher, und Russland, das traditionelle Schwergewicht im Kaukasus und Verbündeter Armeniens, ist auf die Ukraine fokussiert.



"Moskau ist zweifellos nicht mehr in der Lage, seine Rolle als Schiedsrichter zu spielen, und braucht heute eher Aserbaidschan, vor allem weil über Aserbaidschan Waffen aus dem Iran nach Russland transportiert werden", analysiert Dumoulin. "Russland hat weder den Willen noch die Kapazitäten, die armenische Regierung in Karabach zu unterstützen", schreibt Kirill Shamiev vom European Council on Foreign Relations.



"Und die Europäer waren wahrscheinlich geneigt, die Augen zu verschließen", sagt Dumoulin und verweist auf das Gasabkommen mit Aserbaidschan, das die EU unabhängiger von Energie aus Russland machen soll.



Wie könnte es weitergehen?



Die Gefahr eines neuen Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan scheint vorerst gebannt, nachdem Regierungschef Nikol Paschinjan erklärte, dass Armenien sich nicht einmischen werde. Diese Politik ist jedoch in Armenien umstritten und die Regierung steht in der Kritik, die armenische Bevölkerung in Berg-Karabach im Stich zu lassen.



Manche Experten befürchten, dass es Aserbaidschan nicht nur um Berg-Karabach geht. Baku könne versuchen, Gebiete im Süden Armeniens zu erobern, um einen Landweg zu seiner Enklave Nachitschewan und damit zur Türkei zu schaffen. "Dann wäre Armenien gezwungen, in den Krieg zu ziehen", sagt Dumoulin und warnt vor "einem echten Risiko der Eskalation" in dieser Region an der Grenze zum Iran. (AFP)