Neuer Streit um das Kopftuch in der Türkei

Istanbul. Während im Iran unter Lebensgefahr gegen den Zwang zur Verschleierung protestiert wird, streitet die Politik im Nachbarland Türkei über das Recht, ein Kopftuch bei der Arbeit oder in der Schule zu tragen. Die islamisch-konservative Regierungspartei von Präsident Recep Tayyip Erdogan brachte im Parlament nun den Entwurf für eine entsprechende Verfassungsänderung ein. Die Kontroverse um das Kopftuch könnte zu einem der wichtigsten Themen im bevorstehenden Wahlkampf werden.



Damit ist in der Türkei wieder eine Debatte in vollem Gange, die Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk Anfang des 20. Jahrhunderts ein für alle Mal beenden wollte, indem er das Kopftuch aus dem öffentlichen Dienst und dem Bildungswesen verbannte. In seiner 20-jährigen Amtszeit als Regierungs- und Staatschef setzte sich Erdogan - nach Jahrzehnten einer eher säkularen Herrschaft - für die Rechte konservativer Muslime ein, einschließlich verschleierter Frauen.



Die AKP lockerte das Kopftuchverbot von 2008 an Schritt für Schritt und erlaubte die Verschleierung zunächst wieder an den Universitäten, den Schulen, dann im öffentlichen Dienst, im Parlament und schließlich auch bei der Polizei.



Voraussichtlich in der zweiten Dezemberhälfte wird das Parlament die vorgelegte Verfassungsänderung diskutieren. Erdogan, der trotz schwindenden Rückhalts im Juni 2023 erneut als Präsident kandidiert, erwägt sogar, in einem Referendum über die Kopftuchfrage abstimmen zu lassen.



Doch es war sein wahrscheinlicher Herausforderer bei der Wahl, der Oppositionsführer der sozialdemokratischen Partei CHP, Kemal Kilicdaroglu, der das Thema als erster wieder aufgriff. Er räumte ein, dass die CHP - Atatürks Partei - beim Kopftuchverbot "in der Vergangenheit Fehler gemacht" habe. Um die konservativen Kreise zu beruhigen, kündigte Kilicdaroglu an, im Falle seiner Wahl werde er das Recht, ein Kopftuch zu tragen, gesetzlich verankern.



"Gibt es eine Diskriminierung von verschleierten oder unverschleierten Frauen in Schulen oder im öffentlichen Dienst? Nein!", konterte Erdogan. "Wir waren es, die das erreicht haben." Mit der geplanten Verfassungsänderung geht die AKP noch einen Schritt weiter.



Die große Mehrheit der Türkinnen habe die Aufhebung des Kopftuchverbots begrüßt, sagt die Historikerin und Frauenrechtlerin Berrin Sönmez. "Diejenigen, die das Kopftuch als religiöses Symbol betrachten, das den Grundsätzen des Laizismus widerspricht, sollten verstehen, dass ihr Denken diskriminierend ist", sagt Sönmez, die selbst ein Kopftuch trägt. "Das Kopftuch verletzt die Rechte der Frauen nur dann, wenn die Regeln für das Tragen vom Staat auferlegt werden."



Etwa die Hälfte der Türkinnen trage das Kopftuch, schätzt Sönmez. Bei der letzten Umfrage 2012 waren es 65 Prozent. Frauen würden davon profitieren, wenn das Recht, bei der Arbeit oder in der Schule Kopftuch zu tragen, garantiert wäre, ist die Historikerin überzeugt. "Der Gesetzesvorschlag von Kilicdaroglu ist ein wichtiger Schritt, um Erdogan Steine in den Weg zu legen", sagt Sönmez, eine Gegnerin des Präsidenten.



Die türkischen Feministinnen sehen in Erdogans Vorstoß den Versuch, sich die Unterstützung der Konservativsten in der mehrheitlich sunnitisch-islamischen Türkei zu sichern. "Das säkulare Kopftuchverbot wie seine Aufhebung wurden beide im Namen der Emanzipation der Frauen eingeleitet. In Wirklichkeit wurde in beiden Fällen versucht, ihre eigene Vorstellung von der idealen Frau durchzusetzen", schreibt Gönül Tol, Leiterin des Türkei-Programms der US-Denkfabrik Middle East Institute.



"Die Aufhebung des Kopftuchverbots steht sinnbildlich für Erdogans breitere islamistisch-populistische Agenda", kritisiert sie. "Er wollte die Frauen nie wirklich befreien, egal ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht. Für ihn sind Frauen nur Mütter oder Ehefrauen, keine Individuen." (AFP)