Haftbefehle im türkischen Erdbebengebiet wegen möglichem Baupfusch

* Über 28.000 Menschen nach Beben tot geborgen

* Wut gegen türkischen Präsidenten, Angst vor Plünderungen

* Auch 6 Tage nach Katastrophe noch Lebende aus Trümmern gerettet

* UN: Menschein in Syrien fühlen sich zurecht im Stich gelassen

Von Ali Kucukgocmen und Maya Gebeily (Reuters)

Istanbul/Antakya. Die Türkei will hart gegen mögliche Baumängel im Erdbebengebiet vorgehen. Bislang seien 131 Verdächtige ausgemacht worden, die für den Einsturz Zehntausender Gebäude verantwortlich sein könnten, sagte Vizepräsident Fuat Oktay am Sonntag. "Gegen 113 von ihnen

wurden Haftbefehle erlassen." Die Türkei werde alle Umstände auch strafrechtlich aufklären. Das Justizministerium habe in den zehn betroffenen Provinzen Untersuchungsbüros eingerichtet.



Umweltminister Murat Kurum zufolge sind fast 25.000 Gebäude bei den Erdstößen am Montag eingestürzt oder schwer beschädigt worden. Insgesamt wurden nach der Katastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet bis Sonntag über 28.000 Tote gefunden. Allein in der Türkei wurden laut Oktay 24.617 Leichen gezählt. In Syrien starben nach Angaben der Regierung und von Hilfsorganisationen über 3500 Menschen. Allerdings wurde diese Zahl in dem Bürgerkriegsland seit Freitag nicht mehr aktualisiert.

Angesichts der massiven Schäden werden noch zahlreiche Opfer unter den Trümmern befürchtet. Auch sechs Tage nach den verheerenden Erdbeben werden zwar immer wieder Überlebende geborgen, allerdings schwinden die Hoffnungen zusehends. Bereits jetzt ist es in der Türkei das Erdbeben mit den meisten Toten seit 1939.

Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht sich mit immer größerer Wut der Bevölkerung konfrontiert. Viele werfen ihm und den Behörden vor, viel zu langsam und unzureichend auf die Katastrophe reagiert zu haben. Vor allem Fragen nach der Bauweise in dem Erdbebengebiet werden laut. Die Opposition wirft der Regierung vor, Baubestimmungen nicht konsequent erzwungen und Sondersteuern für stabilere Gebäude nach dem letzten großen Erdbeben 1999 verschwendet zu haben. Erdogan weist die Vorwürfe zurück und bezichtigt die Opposition der Lüge.

Erdogan muss sich im Juni Parlaments- und Präsidentenwahlen stellen. Schon vor der Katastrophe waren seine Beliebtheitswerte gefallen - angesichts der hohen Inflation und der schwachen Währung. Erdogan hat zwar angesichts zerstörter Infrastruktur Logistikprobleme bei der Verteilung von Hilfsgütern eingeräumt, aber auch gesagt, die Situation sei unter Kontrolle.

"HOLT MICH HIER SCHNELL RAUS, ICH HABE PLATZANGST"

In der Provinz Hatay im Südosten der Türkei befreite ein rumänisches Rettungsteam einen 35-jährigen Mann aus den Trümmern, wie der Sender CNN Turk berichtete. Er war rund 149 Stunden verschüttet. "Sein Gesundheitszustand ist gut, er hat geredet", so einer der Retter. "Er hat gesagt: 'Holt mich hier schnell raus, ich habe Platzangst'."

In Hatay wurden weitere Personen unter dramatischen Umständen gerettet, darunter auch Kinder. Videos zufolge, die die Gemeinde Istanbul veröffentlichte, wurde beispielsweise ein zehnjähriges Mädchen durch ein Loch in einem zerstörten Gebäude geborgen und auf einer Trage in Sicherheit gebracht. In Hatay wurde zudem ein Kleinkind aus den Trümmern befreit. Ein Video des türkischen Gesundheitsministeriums zeigte, wie das Kind still auf einer Trage lag, gezeichnet von Verletzungen und Schmutz.

In der Stadt Kahramanmaras in unmittelbarer Nähe zum Epizentrum des Bebens sagten Opfer, sie hätten Zelte so nah wie möglich an ihren zerstörten Häusern aufgestellt, um Plünderungen zu vermeiden. Ein älterer Bürger der Stadt sagte, Goldschmuck sei aus seinem Haus entwendet worden. In der Hafenstadt Iskenderun zeigte die Polizei verstärkt Präsenz in Straßen mit vielen Handy- und Schmuckläden. Erdogan hat Plünderern mit harten Strafen gedroht.

Die Vereinten Nationen (UN) lenkten das Augenmerk auch auf das vom Bürgerkrieg bereits gezeichnete Syrien. "Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bislang im Stich gelassen", twitterte der UN-Hilfschef Martin Griffiths von der türkisch-syrischen Grenze. Dort sei nur ein Grenzübergang für Hilfslieferungen der UN offen. "Sie fühlen sich zurecht alleine gelassen." Das müsse sich schnell ändern. (Reuters)