"Ich bin kein Märtyrer"

Im Libanon gehören Sprengstoffattentate und andere Gewalttaten zum traurigen Alltag. Nach den jüngsten Bombenanschlägen sind jetzt zwei Medienkampagnen ins Leben gerufen worden, um die Libanesen für die alltägliche Gewalt in ihrem krisengeschüttelten Land zu sensibilisieren. Hintergründe von Juliane Metzker

Von Juliane Metzker

Es ist der Morgen nach den Weihnachtsfeiertagen als Beiruts Innenstadt durch eine Explosion erschüttert wird. Der Ort des Anschlages liegt nicht weit entfernt vom "Phoenicia International Hotel", vor dem 2005 eine Bombe detonierte und den ehemaligen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri und 22 weitere Menschen in den Tod riss.

Daher kursieren schon kurze Zeit nach der Explosion Meldungen im Internet, dass es sich womöglich auch dieses Mal um einen gezielten Anschlag handeln könnte. Die Mutmaßungen bestätigen sich wenig später – als eines von vier Todesopfern einer Autobombe wird der ehemalige Finanzminister Mohammed Schatah identifiziert. Er galt als enger Vertrauter und Berater des Oppositionspolitikers Saad al-Hariri, Rafiq al-Hariris Sohn, der das syrische Regime und die mit ihm kollaborierende Hizbollah offen kritisierte.

Doch in den Medien wurde nicht nur über den Tod des Politikers diskutiert, noch ein weiteres Opfer rückte in den Fokus der Öffentlichkeit: Mohammed Schaar war 16 Jahre alt und traf sich mit seinen Freunden am Anschlagsort. Kurz vor der Explosion machten die Jugendlichen ein Foto von sich selbst – im Hintergrund ist der mit Sprengstoff beladene, goldfarbene PKW zu sehen, der Minuten später in einem riesigen Feuerball aufgehen sollte. Das nächste Foto von Mohammed zeigt den Jungen mit der roten Jacke regungslos am Boden liegen. Er stirbt einen Tag später an seinen Verletzungen im Krankenhaus.

"Ich bin kein Märtyrer"-Kampagne

In Anlehnung an seinen Tod wurde am 30. Dezember folgende Nachricht in den sozialen Netzwerken geteilt: "Weigere dich, in Angst zu leben. Weigere dich, ein Leben zu führen, in dem du als Märtyrer sterben kannst. Weigere dich, mit der Gewalt zu leben. Füge #notamartyr deinen Twitter-Nachrichten an." Von der Flut an Nachrichten mit dem sogenannten Hashtag "#notamartyr" waren die Initiatoren überwältigt. Knapp eine Woche später zählte auch der Facebook-Auftritt der Kampagne über 5.000 "Gefällt mir"-Angaben.

Die Initiative ruft mittlerweile dazu auf, sich mit einem selbstverfassten Manifest abzulichten und dieses auf der Seite zu posten. "Ich will nicht länger darüber spekulieren müssen, in welchem Viertel meine Freunde oder Familienangehörige ermordet werden", steht auf einem Plakat geschrieben, das eine junge Frau in die Kamera hält. Ein anderes Foto zeigt einen libanesischen Pass und ein Blatt Papier mit der Aufschrift: "Ich will nicht ständig darüber nachdenken müssen, das Land zu verlassen."

Die Kampagne "dreht sich nicht nur um Schaar. Es geht uns um alle Todesopfer, die gegen ihren Willen zu Märtyrern gemacht wurden. (…) Wir wollen den Menschen eine Plattform geben, ihre Gedanken, Frustrationen, Hoffnungen und Träume auszudrücken – in einer Zeit, in der die meisten spüren, dass ihre Wunschvorstellung vom Libanon nicht länger von Bedeutung ist", beschreibt einer der Initiatoren, der lieber anonym bleiben möchte.

Neben den Aufrufen gegen Gewalt sprechen einige Aktivisten auch soziale Probleme an, gegen die sie ankämpfen wollen. Der geoutete homosexuelle Sänger der libanesischen Indie-Pop-Band "Mashrou' Leila", Hamed Sinno, verkündet auf seinem Plakat: "Ich möchte die Hand meines Freundes halten, ohne Angst vor der Polizei zu haben." Weitere Fotos prangern unter anderem die Infrastruktur, Korruption und Verschmutzung der Umwelt im Libanon an.

Respekt für alle Todesopfer

Auf den Anschlag in der Innenstadt reagierte auch die muslimische Studentenvereinigung Beiruts mit der Kampagne "Wir sind nicht nur Nummern". Sie lud alle Libanesen ein, der Beerdigung des zivilen Opfers, Mohammed Schaars beizuwohnen.

"Die Medien berichteten nach dem Anschlag, dass der Politiker Mohammed Schatah gestorben sei – und vier oder fünf Andere. Das Wort "Andere" war ziemlich provozierend", beschreibt Mohammed Estaiteyeh, der Präsident der Vereinigung. Es war der Stein des Anstoßes für die Kampagne.

Er und andere Studenten veröffentlichten daraufhin im Internet ein Manifest mit dem Titel "Wir sind nicht nur Nummern…Sie sind nicht die Anderen", das bis zu 30.000 Klicks erzielte und kreierten einen gleichnamigen Hashtag auf Twitter.

Estaiteyeh nennt zwei Ziele, die die Initiative verfolgt: "Zuerst wollen wir das Bewusstsein der Libanesen erweitern. Sie respektieren ihr eigenes Leben nicht, denn sie empfinden es als normal, dass Leute durch Gewalttaten aus dem Leben gerissen werden. Außerdem üben wir starken Druck auf die Medien aus, damit sie in ihrer Berichterstattung allen Opfern von Gewalt den nötigen Respekt entgegenbringen."

"Wir brauchen eine kritische Masse"

Bloggerin Marina Chamma; Foto: Bernard Khalil
Die libanesische Bloggerin Marina Chamma kommentiert in ihrem Blog "Eye on the East" (dt.: Der Blick auf Nahost) die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ereignisse in der arabischen Welt.

Trotz der Euphorie darüber, das Geschehen im Libanon offen kommentieren und seinem Ärger Luft machen zu können, scheint es noch relativ aussichtslos, die zunehmende Gewalt im Land dadurch zu stoppen.

Die Beiruter Bloggerin Marina Chamma nahm schon an vielen Anti-Gewalt-Kampagnen im Libanon teil. Sie veröffentlichte nach dem Anschlag auf Schatah einen "persönlichen Brief aus der Stadt in der ich lebe". Sichtlich desillusioniert blickt sie darin auf die Zukunft des Landes und hinterfragt die schier unmenschliche Belastbarkeit und Kompromissbereitschaft der Libanesen.

"Ich hoffe, dass die Initiativen weiter geführt werden. Sie sind nicht die ersten Medien-Kampagnen nach einem Anschlag im Libanon und werden auch nicht die letzten sein", so Chamma und spricht damit auch das Versäumnis der meisten zivilen Initiativen im Libanon an: "Viele Aktivisten sind junge Intellektuelle aus Beirut. Aber um das Land wirklich nachhaltig zu verändern, brauchen wir eine kritische Masse und dafür müssen auch Libanesen außerhalb Beiruts mobilisiert werden. Veränderungen gelten nicht nur für Beirut, sondern für den gesamten Libanon."

Beide Initiativen genießen einen großen Rückhalt und Zuspruch im Internet. Damit derartige Kampagnen aber nicht unfreiwillig zu Eintagsfliegen im krisengeschüttelten Libanon werden, müssen sie aus dem virtuellen Raum an die Öffentlichkeit herantreten und kompromisslos für ihre Überzeugungen kämpfen.

Juliane Metzker

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de