Leben im Konjunktiv, Sterben im Meer

Viele Afrikaner lassen beim Versuch, illegal nach Europa einzureisen, ihr Leben. Über ihre Motive und Hoffnungen ist in der Berichterstattung jedoch nur wenig zu lesen. Der marokkanische Schriftsteller Youssouf Amin Elalamy gibt ihnen in seinem Buch "Gestrandet" eine Stimme. Von Moritz Behrendt

​​Die Geschichte ist schnell erzählt. Oder vielmehr die Nachricht, denn 13 tote Bootsflüchtlinge bieten unseren Medien selten Anlass, mehr als einen Zehnzeiler zu veröffentlichen:

Zwölf Männer und eine schwangere Frau sind beim Versuch, illegal nach Europa zu kommen, im Mittelmeer ertrunken. Ihre Leichen wurden am Strand eines kleinen Ortes an der marokkanischen Küste gefunden.

So ähnlich lautete eine Meldung, die Youssouf Amine Elalamy in der Rubrik "Vermischtes" einer marokkanischen Zeitung gelesen hat, wie er im Gespräch erzählt. "Dann wurde ihre Zahl zu denen addiert, die in jenem Jahr schon auf die gleiche Weise umgekommen sind. So wurden die Gestorbenen zu einem statistischen Wert reduziert."

Elalamy wollte sich damit nicht abfinden. Die Literatur habe schließlich die Macht, die menschliche Dimension solcher Ereignisse in den Vordergrund zu rücken, sagt er.

Ein Leben, zu klein

In der Tat, was der 1961 geborene Schriftsteller aus der dürren Nachricht macht, ist ein poetisches Panorama des Lebens, der Liebe – und des Todes im Meer. "Vielleicht haben jene einen Traum, der ein wenig zu groß und ein Leben, das ein wenig zu klein und so schwierig zu ertragen ist", schreibt der Autor - und er erweckt in kurzen Kapiteln die 13 "Gestrandeten" zu neuem Leben.

Etwa Moulay Abslam, der immer Geschichten erzählte, wie die des Mannes, der anfing, Bücher zu schreiben, weil er kein Geld hatte, welche zu kaufen. Oder der dunkelhäutigen Abdou, "Mitternacht" genannt, der trotz seines Universitätsabschlusses keine Arbeit gefunden hat.

Der sich deswegen so sehr schämt, dass er jeden morgen sein bestes Hemd anzieht und die guten Schuhe und vorgibt, zur Arbeit zu gehen. Bis die Schuhe so ausgelatscht sind, dass er es nicht mehr erträgt.

Flüchtlinge und Strandurlauber auf Teneriffa; Foto: dpa
"Vielleicht haben jene einen Traum, der ein wenig zu groß und ein Leben, das ein wenig zu klein und so schwierig zu tragen ist" - Flüchtlinge auf der Ferieninsel Teneriffa.

​​Für Menschen wie Abdou gibt es in Marokko einen feststehenden Begriff: "diplomés chomeurs". Diese diplomierten Arbeitslosen demonstrieren immer wieder vor dem Parlament in der Hauptstadt Rabat, um auf ihr Schicksal hinzuweisen.

Das greift Elalamy in seinem Buch auf. Dies ist aber die einzige Stelle, die auf einen konkreten marokkanischen Kontext verweist. Ansonsten sind die Motive, die Elalamy mit wenigen Sätzen skizziert, universell: der Verlust des Arbeitsplatzes, die uneheliche Schwangerschaft, das Gefühl, von gesellschaftlichen Normen und wirtschaftlicher Not eingeengt zu sein.

Durst nach einem anderen Leben

Trotz dieser eingängigen und nachvollziehbaren Motive ist "Gestrandet" nicht leicht zu lesen, was angesichts der Tragik dieses Themas nicht als negativer Kritikpunkt missverstanden werden soll. Dafür sorgt zum einen der ständige Wechsel der Perspektive.

Mal erzählt einer der Ertrunkenen davon, wie das Boot kentert, andere Stellen lesen sich wie ein Abschiedsbrief. In mehreren Kapiteln versuchen sich die Angehörigen einen Reim auf den Tod ihrer Liebsten zu machen, dann wieder beschreibt ein Fotograf technisch präzise, wie er die Leichen am Strand aufgenommen hat.

Youssouf Amine Elalamy; Foto: privat
Macht auf die tragischen menschlichen Schicksale so genannter "illegaler" Einwanderer aufmerksam: der marokkanische Schriftsteller Youssouf Amin Elalamy.

​​Keine der Geschichten ist ausufernd, vielmehr ist alles ein großer Konjunktiv: So könnte es gewesen sein, so sehr haben diese 13 Menschen nach einem anderen Leben gedürstet, dass sie sich dafür in einem klapprigen Boot ins Mittelmeer gewagt haben.

Dafür, dass kein Lesefluss aufkommt, sind auch die ständigen Wiederholungen verantwortlich. Teilweise tauchen ganze Absätze an späteren Stellen erneut auf, teilweise werden einzelne Worte oder Satzfragmente mehrfach wiederholt.

Wiederholungen als künstlerisches Stilmittel

"Die Wiederholungen sollen den Eindruck von Klaustrophobie erwecken", erklärt der Autor im Gespräch, "sie sollen vermitteln, eingeschlossen zu sein. Sie geben die Bewegungen der Wellen im Meer wieder, die hin- und herwogen, die nichts hergeben, aber jeden Betrachter in ihren Bann ziehen."

Auch wenn hin und wieder beim Lesen der Eindruck entsteht, Elalamy wolle vor allem sein ganzes sprachliches Talent und seine stilistische Vielfalt unter Beweis stellen – Schreiben, das ist sicher, kann er –, so lässt spätestens das letzte Kapitel keinen Zweifel daran, wie wichtig ihm das Thema ist: "Sie sind ertrunken", das ist bei aller sprachlichen Spielerei für Elalamy Fakt.

Dem kleinen Verlag "Donata Kinzelbach" ist zu danken, dass Elalamys lesenswerter Roman jetzt auch auf Deutsch zu lesen ist. Zwar ist das Buch im Original auf Französisch ("Les Clandestins") bereits vor neun Jahren erschienen, aber seither hat das Thema wahrlich nicht an Aktualität verloren.

Moritz Behrendt

© Qantara.de 2009

Youssouf Amine Elalamy: Gestrandet. Aus dem Französischen von Barbara Gantner, Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 2008, 145 Seiten, 18 Euro

Qantara.de

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