Die Wiedergeburt des Stammes im Staat

In seinem Essay erläutert der libysche Autor Faraj Alasha, wie arabische Autokraten staatliche Institutionen mit tribaler Logik lenken. Aus Parteien werden Familienclubs, aus einer Loyalität zum Land erwächst eine Loyalität zum herrschenden Clan-Oberhaupt.

Essay von Faraj Alasha

Das arabische Wort für "Stamm" – qabila – leitet sich von der derselben Wurzel ab wie die Partikel qabla. Mit dieser wird alles Vorzeitliche bezeichnet: Das vorstädtische Zeitalter, das Vorzivilisatorische etc. Stammesleben bedeutet Leben im Anfänglichen, in Verbänden, Sippen, Clans und Traditionen, im Vorpolitischen, Vorideologischen und Vorstaatlichen.

Wenn die Geschichte der Stadt die Geschichte des Geistes ist, wovon die moderne Zivilisationsphilosophie ausgeht, und die Stadt im Wesentlichen der Ort geistiger und institutioneller Rationalität ist, dann ist die Geschichte des Stammes eine Geschichte von Mythologie und Legende, in der das Dorf alles dominiert und alles dem Wechsel der Jahreszeiten, dem Mondumlauf und dem Regen unterliegt, und wo man nur das hat, was Erde und Vieh hergeben und was man an Getreide, Honig, Milch und am Webstuhl produziert.

Alles liegt hier in Gottes Hand und ist abhängig von seiner Güte oder seinem Zorn, und so gibt es entweder Fruchtbarkeit oder Dürre. Was die tribale Gemeinschaft dabei zusammenhält, ist das Konzept von Hirte und Herde, wobei der Hirte zugleich Beschützer und Bestimmer seiner Herde ist. Dafür stellt er ihr Weide und Wasser bereit und bewacht sie mit seinen Hunden.

Tribale Tyrannen

In den offiziellen Biografien von Clan-Tyrannen wie Saddam Hussein, Muammar al-Gaddafi und Ali Abdullah Salih lesen wir jeweils ein Loblied darauf, dass sie alle in ihrer Kindheit Schafe gehütet hätten, womit sie es dem Propheten Muhammad gleichtaten.

Libyens ehemaliger Diktator Muammar al-Gaddafi; Foto: CHRISTOPHE SIMON/AFP/Getty Images
Von ehrenwerten Hirten und Tyrannen: In den offiziellen Biografien von Clan-Tyrannen wie Muammar al-Gaddafi lesen wir jeweils ein Loblied darauf, dass sie alle in ihrer Kindheit Schafe gehütet hätten, womit sie es dem Propheten Muhammad gleichtaten. In seinem Kinderbuch "Das Dorf, das Dorf - Die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten" zeichnet Gaddafi ein romantisches Bild von der ruralen Stammesgesellschaft, wohingegen er das moderne Leben in den Städten mit äußerst negativen Bildern assoziiert.

Die Stammesstruktur ist schlicht und vorzeitlich, sie baut auf mündlicher Überlieferung auf und wird durch Erkennungszeichen, Symbole, Signale, Orte und Ziele bewahrt. Ihre Narrative sind gleichbleibend und streng. Nichts durchbricht ihr soziokulturelles orales Erbe und ihr unhinterfragtes, gewohnheitsmäßiges Handeln in Bezug auf Lebensart, Produktionsweise und mündlich überlieferte Kultur, die bis ins Zeitalter des Kolonialismus und des Erdöls jahrhundertelang unverändert geblieben waren.

Erst jener surreale geologische Zufall namens Ölvorkommen hat alles auf den Kopf gestellt. Vor der Entdeckung des Erdöls hatten die Stämme (beispielsweise am Arabischen Golf oder in Libyen) von Wasser und Weiden gelebt und dabei ihre Lebensmittel durch Viehhaltung und Landwirtschaft selbst produziert. Das Komplexeste, was sie besaßen, war ein von Tieren gezogener Pflug. Ihre Kinder hörten derweil im Kerzenschein die Großmutter vom Dämon und der Tochter des Sultans und den Heldentaten von Abu Zaid al-Hilali erzählen.

Es war damals noch so, wie es schon der mittelalterliche Soziologe Ibn Khaldun beschrieben hatte: "Das Zusammenleben und Zusammenwirken [der Stämme] bei der Arbeit, dem Bau von Behausungen und der Herstellung von Lebensmittel geht nur so weit, wie es zum Leben und Überleben unerlässlich ist, ohne dass es über dieses Maß hinaus geht und ohne dass sie in der Lage wären, mehr zu tun."

Macht durch Autorität und Macht durch Gewalt

Die Stammesgesellschaft, die durch das Einströmen von Petrodollars und Bevölkerungswachstum plötzlich zu einer urbanen wurde, hat sich mit ihrem Prinzip des Stammeszusammenhalts auf der Grundlage von Verwandtschaft und Abstammung parasitär am modernen System der Stadt und des Staats bedient, welches auf Institutionen aufbaut, die auf Autorität gründen. Diese Autorität fußt auf der Verteilung von Kompetenzen, auf klar umrissenen Vorschriften sowie auf Verfassung, Gesetz und Justiz. Es ist das Gegenteil der personifizierten Autorität durch die Stärke eines Individuums – des Hirten beziehungsweise des Scheichs, der grundsätzlich für alles zuständig ist.

Während Stämme sich in Clans, Sippen, Großfamilien und was auch immer für Gebilde gliedern, besteht die Stadt aus Klassen, Institutionen, Produktionsbeziehungen und Kommunikationsmitteln, Kultur und Ethik.

Und während die Stadt Menschen hervorbringt, die sich verändernden und widerstreitenden Werten in einer Handels- und Industriewirtschaft unterliegt, verharrt die Stammesgesellschaft in unveränderlichen beduinischen Sozialstruktur, die sich im Rahmen einer Subsistenzwirtschaft selbst reproduziert: Land- und Weidewirtschaft und allenfalls primitive Handelsaktivitäten. Darauf basieren alle Begriffe und Gebräuche und überlieferte Traditionen, die ihrerseits das Leben bestimmen: Heirat, Scheidung, Rache, Beutezüge, Ehre und Schande, Gefangennahme, Beuteaufteilung und Stammesverbannung.

Im modernen Staat löst sich die traditionelle Stammesgesellschaft auf, aber auch in der Stadt bleiben tribale Strukturen selbst dann bestehen, wenn eine jahrhundertealte Gesellschaft durch den Zufall einer geologischen Entdeckung durch den Westen zu einer städtischen wird.

Nach der staatlichen Unabhängigkeit, insbesondere seit den sechziger Jahren, entstanden um die großen arabischen Städte ganze Gürtel von Land- und Steppenflüchtlingen, die das Rückgrat einer Klasse billiger Arbeitskräfte bildeten und die in die neu entstehenden Armeen eintraten.

Ägypten ehemaliger Staatspräsident Gamal Abdel Nasser; Foto: dpa
Mit Ausnahme des Nasser-Militärputsches in Ägypten zur Begründung eines nationalen, panarabischen Projekts auf der Basis der arabischen Nahda (Renaissance), das mit der Niederlage im Junikrieg 1967 endete, mündeten alle anderen arabischen Putsche in eine Reproduktion autokratischer, familiärer, tribaler und konfessioneller Macht in unterschiedlichen Gewändern und im Zeichen unterschiedlicher Parolen und Ideologien.

Die durch Putsche an die Macht gekommenen Staatsmänner fanden in diesem ärmlichen ländlich-beduinischen Milieu ein nie versiegendes Reservoir an falschem Bewusstsein. Und so wurde die Kultur von Hirte und Herde zur Basis einer putschistischen "revolutionären" Machtstrategie, die auf Parolen wie "Freiheit, Sozialismus und arabische Einheit" getragen wurde, welche nichts anderes waren, als Propagandabanner ohne jeglichen Bezug zur Wirklichkeit.

Mit Ausnahme des Nasser-Militärputsches in Ägypten zur Begründung eines nationalen, panarabischen Projekts auf der Basis der arabischen Nahda (Renaissance), das mit der Niederlage im Junikrieg 1967 endete, mündeten alle anderen arabischen Putsche in eine Reproduktion autokratischer, familiärer, tribaler und konfessioneller Macht in unterschiedlichen Gewändern und im Zeichen unterschiedlicher Parolen und Ideologien.

"Ein Tyrann, krankhaft besessen von Selbstrühmung"

Nehmen wir den Saddam-Putsch im Irak als Beispiel. Er fand in einer Gesellschaft statt, die seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts immer aufgeklärter geworden war, folgte aber perfiden geheimdienstlichen Mechanismen, die sich zentral an der Macht von Familie, Stamm und Konfessionsgruppe orientierten.

Saddam Hussein kam aus einer säkularen sozialistischen Partei. Nachdem er seinen Amtsvorgänger Präsident Al-Bakr vergiftet hatte, bediente er sich beim Management und der Absicherung seiner Macht der Tradition des Stammeszusammenhalts mittels seiner alleinherrschenden Partei, einer elitären republikanischen Garde, der Geheimdienste und des Öls

Mit dieser Methode machte er seinen Cousin Hussein Kamil al-Majid, der Polizeioffizier war, zum Verteidigungsminister. Seinem Schwiegersohn Hassan Kamil al-Majid, einem Armeeoffizier, übertrug er weitgehende exekutive Machtprivilegien, darunter die Aufsicht über die Militärindustrie und die Leitung der republikanischen Garde. Zudem kontrollierte er das Waffenarsenal der Armee und den Schmuggel verbotener Waffen aus westlichen Schwarzmärkten. Damit war er mächtiger als der Verteidigungsminister.

Männer laufen an einem Poster des Saddam Art Center in Bagdad vorbei, das Iraks ehemaligen Staatspräsidenten Saddam Hussein in kriegerischer Pose sowie die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem zeigt; Foto: AP
Ikonographie des Größenwahns: Saddam war der Prototyp des modernen arabischen Despoten in der machiavellistischen Tradition des Kalifen Muawiya. Seinen Staat baute er auf scheinbar modernen nationalistischen Ideen auf und machte sich zum Inbegriff der Neuerstehung der Nation. Dabei kopierte er faschistische Ideologien aus Europa.

Als jener Schwiegersohn, der Mann von Saddams Tochter Raghad, sich 1996 vom Regime in Bagdad lossagte und nach Jordanien floh, wo er Asyl vom damaligen König Hussein bekam, täuschte ihn Saddam, indem er eine Amnestie für ihn aussprach und ihm ein verbindliches Stammesversprechen gab, dass ihm bei einer Rückkehr kein Unheil drohe. Saddams Tochter spielte eine Schlüsselrolle dabei, ihn zur Rückkehr zu überreden. In Wirklichkeit hatte Saddam geplant, ihn von einem verwandten Clan ermorden zu lassen. Als Hassan Kamil al-Majid in den Irak zurückkehrte, wurden er, sein Bruder, sein Vater und mehrere seiner Cousins ermordet.

Saddam erarbeitete sich einen Ruf, der seine Brüder im Geiste neidisch werden ließ, darunter Ali Abdullah Salih und Muammar al-Gaddafi, aber auch seinen Erzfeind Hafiz al-Assad, der Syrien ebenfalls mit der Baath-Partei regierte. Saddam war der Prototyp des modernen arabischen Despoten in der machiavellistischen Tradition des Kalifen Muawiya. Seinen Staat baute er auf scheinbar modernen nationalistischen Ideen auf und machte sich zum Inbegriff der Neuerstehung der Nation. Dabei kopierte er faschistische Ideologien aus Europa.

Die Legende vom "unersetzbaren Führer"

Weil Saddam Hussein krankhaft süchtig danach war, sich selbst zu rühmen, verstieg sich sein Pressesekretär Hussein Abduljabbar Muhsin zu dem Prädikat "unersetzbarer Führer" für den Präsidenten. Damit sollte ausgedrückt werden, dass Saddam Hussein ein von der Geschichte gesetzter, in prophetischem Rang stehender Anführer des Landes war. Und da Saddam mit der Zeit selbst daran glaubte, musste er auch alles daran setzen, bis zu seinem natürlichen Tod an der Macht zu bleiben, bevor er sie an einen Sohn weitergäbe.

Dasselbe ließe sich von Muammar al-Gaddafi in Libyen oder Ali Abdullah Salih im Jemen sagen, die als orientalische Despoten das Militär, den Staatsapparat und ihre jeweils herrschende Partei ebenfalls nach tribaler Logik führten. Nach und nach führten Säuberungen dazu, dass diese zu Familienvereinen wurden, und aus der Loyalität zum Parteichef wurde eine Loyalität zum Familienchef beziehungsweise zum Oberhaupt des herrschenden Clans, beziehungsweise beides zusammen.

Jemens früherer Präsident Ali Abdullah Salih; Foto: AP
„Ein Tanz auf Schlangenköpfen“: Anfang Dezember 2017 hatte sich Ali Abdullah Salih mit den vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen im Jemen überworfen, weil er Saudi-Arabien entgegenkommen wollte. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern. Schließlich erschossen die Huthi-Rebellen Salih, als dieser aus Sanaa fliehen wollte.

Am Ende konnten wir sehen, wie diese drei klassischen Stammesdespoten im dritten Jahrtausend alle auf eine ähnlich schreckliche Weise ums Leben kamen. Saddam wurde von seinen konfessionellen Gegenspielern gehängt, die den Irak nach ihm mit Hilfe der amerikanischen Besatzung und ihren schiitischen Gehilfen aus dem Iran regierten.

Gaddafi wurde von "Revolutionären" gefangen genommen, während NATO-Flugzeuge über ihnen kreisten und er versucht hatte, sich in einem Abwasserrohr zu verstecken. Dieselben Rebellen, die er selbst zuvor als Ratten bezeichnet hatte, lynchten ihn und entstellten seinen Leichnam.

Und schließlich wurde Präsident Salih, der immer gesagt hatte, den Jemen zu regieren sei wie "ein Tanz auf Schlangenköpfen", von Gewehrsalven derer hingestreckt, mit denen er kurz zuvor noch verbündet gewesen war: den Huthis. Diese streben nun als neue "erwählte" Religions- bzw. Stammesgruppe nach der Herrschaft über den Jemen.

Faraj Alasha

© Qantara.de 2018

Faraj Alasha ist ein libyscher Publizist und Schriftsteller.

Übersetzt aus dem Arabischen von Günther Orth