Ein literarisches Spiegelkabinett

Tajib Salichs "Zeit der Nordwanderung" wird allgemein als Gegennarrativ zu Joseph Conrads "Herz der Finsternis" verstanden, nicht nur wegen der häufigen Verweise auf Conrads Werk, sondern auch wegen der Auseinandersetzung mit den Übeln des Kolonialismus, die sich beide Romane teilen. Von Valentina Viene

Von Valentina Viene

Salichs Buch steht zweifelsohne im direkten Dialog mit Shakespeare, was die tragischen Todesfälle, die unerwiderte Liebe oder die Farbensymbolik angeht. Auch rekurriert sein Werk auf Oscar Wilde – wegen der Verhaltensparallelen zwischen Dorian Gray einerseits und Mustafa andererseits, der als Hauptfigur in "Zeit der Nordwanderung" Liebesaffären mit verschiedenen englischen Frauen unterhält und diese in den Tod treibt.

Professor Irwin, Experte für Literatur zum Thema "Tausendundeine Nacht" sowie Autor von "The Arabian Nightmare" (1983), erklärte, wie man "Zeit der Nordwanderung" durchaus als politisches Buch verstehen könnte. Doch der ganz besondere Reiz liegt für ihn darin, dass dieser Roman auch ein Spiegelbild seiner selbst ist – mit einer Geschichte in der Geschichte.

"Indem er die Geschichte einer anderen literarischen Abhandlung erzählt", sagte Irwin, "erreicht die erste Erzählung ihr Grundthema und reflektiert gleichzeitig das Bild von sich selbst." Auf diese Weise verbindet sich "Zeit der Nordwanderung" mit "Tausendundeine Nacht". Muhammad überlebt, indem er die Geschichte von Mustafa erzählt. Auch Scheherazade wird durch ihre Erzählungen davor gerettet, das traurige Schicksal ihrer Vorgängerinnen zu teilen.

"Zeit der Nordwanderung" ist voll von literarischen Anspielungen. Auch der Einfluss von Frantz Fanon und Sigmund Freud bleiben nicht unbemerkt. Der mit englischer Literatur und englischem Gedankengut bestens vertraute Tajjib Salich muss wohl diesen spielerischen Umgang mit westlichen Werken genossen haben, ohne jemals ein Gefühl der Unterwerfung oder Unterlegenheit anklingen zu lassen. Stattdessen gewinnen wir den Eindruck, dass uns der Autor hierdurch einlädt, die Romane zu überdenken und in einem neuen Licht zu lesen.

Ambiguität und Illusion nähren

Die Dualität durchzieht die Erzählung wie ein roter Faden und könnte ein Spiegelbild von Salichs Leben im Spannungsfeld zwischen England und dem Sudan sein. Norden und Süden, Stadt und Land, Sexualität und Todessehnsucht, Moderne und Tradition, Mohammed versus Mustafa: Der Dualismus ist eine Obsession, die Salich mit Joseph Conrad und vielen anderen teilt.

Tajjib Salichs Roman "Zeit der Nordwanderung" im Lenos-Verlag
Von der Arabischen Literaturakademie zum wichtigsten arabischen Roman des 20. Jahrhunderts erklärt, erschien Tajjib Salichs „Zeit der Nordwanderung“ erstmals 1966. Im diesjährigen Vortrag zum Saif Ghobash Banipal Prize für Literaturübersetzungen aus dem Arabischen sprach Professor Robert Irwin über die einzigartige Form, in der sich Tajjib Salich mit der westlichen Kultur auseinandersetzt, sowie über das Gegennarrativ, das dieser in den postkolonialen Diskurs einbringt.

Zudem bleibt vieles von diesem Roman ungewiss und Gegenstand von Spekulationen: Wer sind die Herren, die zu Beginn des Romans angesprochen werden? Der tragische Tod der Frauen und sogar Muhammads Hilferuf am Ende werden nicht vollständig erklärt. Kommt er im Fluss zu Tode oder wird er gerettet?

Der Erzähler, auch wenn er namenlos bleibt, ist alles andere als unsichtbar und losgelöst: Er ist indirekt für Wad Rayyes' Ermordung und Hosnas Selbstmord verantwortlich, eine Tragödie, deren Handlung an Romeo und Julia erinnert. Der Leser soll denken, dass der Erzähler und Muhammad ein und dieselbe Person ist. Mustafa, der alles ist, was Muhammad nicht ist, beharrt darauf, dass er "kein Othello ist", und dass "Othello eine Lüge ist". "Niemals", so Irwin, "erhalten wir eine abschließende Geschichte". Wieder einmal ist Salich darauf bedacht, die Illusion zu wahren.

Das Dorf an einer Nilbiegung

Tajjib Salich wählte als Ort für die Ereignisse ein anonymes sudanesisches Dorf "an einer Flussbiegung". Der Fluss hat im Roman große Bedeutung: Der Nil fließt nach Norden, Vögel und Tiere ziehen nach Norden. Und Mustafa reist in die gleiche Richtung, um seine Ausbildung fortzusetzen – zuerst nach Kairo, dann nach London. Schließlich kehrt er an den Strom zurück und stirbt darin.

Das imposante Bild des Stroms spiegelt sich im mächtigen Kongo aus Conrads "Herz der Dunkelheit". Es ist auch ein Symbol des Wandels: Die traditionellen Wasserräder werden durch Pumpen ersetzt. Sie erleichtern die Bewässerung und machen es den Menschen möglich, in das Dorf zurückzukehren und die Felder zu bewirtschaften.

Der Fluss ist der Ort für eine weitere letzte Veränderung: Mohammed läuft im Wahn ins Wasser. Er will ertrinken, aber ein plötzlicher Drang, "sich vorwärts und nicht abwärts zu bewegen", überkommt ihn. Erstmals in seinem Leben trifft er die Entscheidung, zu überleben und Mustafas gespenstische Präsenz aus seinem Leben zu verbannen. Ob er tatsächlich überlebt oder nicht, ist eine andere Geschichte.

Irwin verwies in seinem Vortrag darauf, dass Salich es vorzog, das Wort hidjra (für Auszug) statt rihla (für Reise) im arabischen Originaltitel seines Romans zu verwenden. Die Hidschra als Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina hat eine religiöse Konnotation, vermittelt aber auch das Gefühl, etwas hinter sich zu lassen, was der Autor zu betonen versuchte: Mustafa verlässt das kleine sudanesische Dorf. Er wird nach seiner Rückkehr nicht mehr derselbe sein. So sehr er es auch versuchen mag.

In Salichs anderen Romanen wie "The Wedding of Zain" (1964) oder "Bandarshah" (1971) wird das Dorf als Idylle und Ort des verlorenen Glücks dargestellt. In "Zeit der Nordwanderung" ist das Dorf jedoch weit von dieser romantischen Konnotation entfernt. Genau wie die Stadt London ist das Dorf ein Ort, an dem Verbrechen verübt werden und Tragödien stattfinden. England, Salichs Sudan und Conrads Kongo: Sie alle sind letztlich "Orte der Finsternis".

Valentina Viene

© Qantara.de 2017

Aus dem Englischen von Peter Lammers