Der eurozentrische Blick

Anders als in den meisten seiner bisherigen Texte fehlt in dem Essay des bekannten Sozialphilosophen Slavoj Žižek über Islam und Moderne jegliche linke Orientierung. Stattdessen produziert er einen überraschenden Text, in dem er für Mobilitätseinschränkungen von Flüchtlingen in Europa plädiert und eurozentrische Einstellungen verteidigt. Von Tarkan Tek

Von Tarkan Tek

Es war der verheerende Terrorangriff auf die Redaktionsräume der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" in Paris vom Januar 2015, der Slavoj Žižek schließlich dazu veranlasste, einen kritischen Essay unter dem Titel "Blasphemische Gedanken – Islam und Moderne" zu publizieren.

Sein Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste Abschnitt mit dem Titel "Der Islam als Lebensform" ist ein Beitrag zu den aktuellen Diskussionen rund um den Islam in der Gegenwart, der zweite Abschnitt mit dem Titel "Ein Blick in die Archive des Islams" setzt sich hingegen mit grundsätzlicheren, unter anderem psychoanalytischen Aspekten des Islams auseinander.

In der Einführung zu diesen beiden Teilen beurteilt Žižek den vermeintlichen Zusammenhalt der Staatsoberhäupter, die nach den "Charlie Hebdo"-Anschlägen von Paris Einigkeit im Kampf gegen den Terrorismus demonstrierten, als heuchlerisch: "An jenem Sonntag hielten politische Größen aus der ganzen Welt miteinander Händchen, von David Cameron bis Sergei Lawrow, von Benjamin Netanjahu bis Mahmud Abbas. Wenn es je ein Bild der Heuchelei gab, dann dieses", so Žižek. Daran schließt er die Frage an, warum dieses Attentat sich nicht gegen Amerika, sondern gegen Frankreich richtete? Schließlich ginge es den Terroristen um die US-amerikanische Besetzung des Iraks. Wenn er aber den Imperialismus der USA gegen den Nahen Osten schon heranzieht, dann dürfte er auch nicht den Imperialismus Frankreichs gegen viele muslimische Länder und Regionen vergessen, allen voran Algerien, Libyen, Mali und die ebenfalls wichtige Rolle im Syrienkrieg.

Kritikunfähige Linke

Žižek wirft im weiteren Verlauf seines Essaybandes insbesondere der linksliberalen Öffentlichkeit Befangenheit in der Missbilligung solcher Taten vor, da sie sich angeblich aus Furcht vor Rassismusvorwürfen zu zurückhaltend bei der Verurteilung der Anschläge verhielten und die Verantwortung des Westens für die Gräueltaten und Massaker in der sogenannten Dritten Welt anführten, um die Muslime nicht zu provozieren. Die Kritikunfähigkeit der Linken und die Etikettierung jeglicher Kritik am Islam als islamophoben Rassismus ist ein weiterer Kritikpunkt Žižeks, der darin ein pathologisches Problem sieht.

Trauermarsch in Paris am 11. Januar 2015; Foto: Reuters/Wojazer
"Sinnbild der Heuchelei": "Denken heißt, über das Pathos der allgemeinen Solidarität hinauszugehen, das in den Tagen nach den Attentaten explodierte und in dem Spektakel vom 11. Januar 2015 seinen Höhepunkt fand. An jenem Sonntag hielten politische Größen aus der ganzen Welt miteinander Händchen, von David Cameron bis Sergei Lawrow, von Benjamin Netanjahu bis Mahmud Abbas. Wenn es je ein Bild der Heuchelei gab, dann dieses", schreibt Slavoj Žižek.

Žižek konstatiert, dass dem Islam angeblich mit zu großer Toleranz begegnet werde. Dabei lässt er unerwähnt, wie man sonst den Umgang mit dieser Religionsgemeinschaft gestalten könnte. Sollte etwa die muslimische Minderheit in Europa noch stärker unter Druck gesetzt werden? Eine klare Antwort bleibt uns Žižek schuldig. Stattdessen erklärt uns Žižek, dass der Fundamentalismus eine mystifizierte Reaktion auf den Liberalismus und seine Erscheinungsformen in anderen Teilen der Welt sei. Obwohl sich der Liberalismus als realistische Gegenbewegung zum Fundamentalismus begreife, trage er durch seine Schwächen dazu bei, radikales Denken genauso wie den Fundamentalismus hervorzubringen. Genau deshalb sei der Liberalismus auf Antworten der radikalen Linken und deren Standpunkte angewiesen, um seine Werte und Errungenschaften bewahren zu können.

Widersprüchliche Argumentation

Nachfolgend führt er Aspekte der viel zitierten Faschismuskritik Horkheimers für seine Argumentation ins Feld – nämlich die These, "[…] dass diejenigen, die nicht kritisch über den Kapitalismus reden wollen, auch über den Faschismus schweigen sollen-, gilt ebenso für den heutigen Fundamentalismus: Wer nicht kritisch über die liberale Demokratie sprechen will, der soll auch über den religiösen Fundamentalismus schweigen."

Zum einen beschreibt Žižek den Liberalismus als eine Lösung für den von den Linksradikalen indirekt unterstützten Fundamentalismus, gleichzeitig spricht er in seiner Systemkritik jedoch auch den Liberalismus nicht von Verantwortung frei. Das macht seine Analyse umso widersprüchlicher, da er gleichzeitig dem Linksradikalismus eine entschiedenere Opposition gegen den Fundamentalismus zuschreibt.

Im zweiten Teil wagt sich Žižek an eine psychoanalytische Darstellung des Islams und beginnt diese Diskussion mit dem islamischen Gottesverständnis. Von dort aus arbeitet er den Unterschied zu den anderen Offenbarungsreligionen wie folgt heraus:

"Im Unterschied sowohl zum Judentum als auch zum Christentum, den beiden anderen Buchreligionen, schließt der Islam Gott aus dem Bereich der väterlichen Logik aus: Allah ist kein Vater, nicht einmal ein symbolischer – Gott ist eins; er ist weder geboren, noch bringt er Geschöpfe zur Welt. Es gäbe keinen Raum für eine Heilige Familie im Islam. Deshalb betont der Islam den Umstand so stark, dass Muhammed selbst Waise war."

Flüchtlinge bei Idomeni; Foto: Getty Images/AFP/L. Gouliamaki
"Wir und "die anderen": In der Abgrenzung und Exklusion nach außen präsentiert sich Europa als homogenes Konstrukt – eine Wahrnehmung, der sich offensichtlich auch Linksintellektuelle und Sozialphilosophen wie Slavoj Žižek nicht entziehen können.

Wie schon Žižek erwähnt, ist ein solches Gottesverständnis mit keiner der anderen Religionen gleichzusetzen. Der Familie des Propheten Muhammad wurde ursprünglich auch keine Heiligkeit zugesprochen. Das verhinderte aber nicht, dass der Familie später das Recht auf die rechtmäßige Kalifatsnachfolge zuerkannt wurde. Dieses Recht wurde in der später entstandenen Denkschule der Schia in die Glaubenslehre inkorporiert und damit der Familie des Propheten Heiligkeit zugesprochen.

Eine Vorstellung von der Heiligkeit der Familie ist also im heutigen Islam – wenn auch in einer Minderheitenposition – durchaus vorhanden, was Žižek erwähnen könnte und damit dem Leser einen differenzierteren Zugang bieten würde. In Hinblick auf die Institutionalisierung des Islams findet Žižek kaum Ähnlichkeiten zwischen der islamischen und christlichen Institutionalisierung. Die Existenz der islamischen "Glaubensgemeinschaft" (Umma) und die staatsfeindlichen Konzepte im Islam sind Phänomene, welche eine tatsächliche Institutionalisierung verhindern. In diesem Zusammenhang verweist Žižek auch darauf, dass der Islam im Gegensatz zu anderen institutionalisierten Religionen nicht auf einem "opfernden" Menschenbild basiert.

Eine häufige Kritik an Žižek, dass er sehr kurzfristig Analysen zu komplexen Sachverhalten liefere und sich dabei oft in Widersprüche verstricke, mag teilweise überzogen sein. Jedoch lässt Žižeks Essay eine linke politische Perspektive gänzlich missen. Stattdessen argumentiert er unter anderem für Mobilitätseinschränkungen von Flüchtlingen in Europa und verteidigt damit viele eurozentrische Einstellungen.

Dichotomisches Weltbild

Auffällig ist auch, dass Žižek die Begriffe Islam und Moderne bewusst in einen konträren Zusammenhang stellt und damit die gegenwärtig aufgeheizte Stimmung gegen Muslime und Flüchtlinge in Europa weiter fördert. Trotz seiner Kritik am Liberalismus zeugt der Essayband von einem polarisierenden Weltbild. Žižek teilt die Welt ein in wir, dem angeblich liberalen und toleranten Westen, und die, das heißt die Welt des Islam und des Fundamentalismus als Gegenpol. Seine Darstellung des Islams wird der Inhomogenität dieser Religion nur teilweise gerecht und muss insgesamt als Pauschalisierung zurückgewiesen werden.

Die wenigen Textpassagen, die ein differenzierteres Bild des Islams zeichnen, wirken eher wie ein Legitimationsversuch des Autors und entschärfen nicht die grundsätzliche Haltung des Essays.

Žižek erwähnt immer wieder die patriarchalen Elemente im Islam. Dabei kann ihm in vielen Bereichen Recht gegeben werden: Im Islam finden sich tatsächlich patriarchale Strukturen, was schlicht mit der damaligen patriarchalen Offenbarungsgemeinschaft zusammenhängt. Bei aller berechtigter Kritik verschweigt Žižek jedoch beispielweise die Ansätze muslimischer Feministinnen, die sich dem Koran in seiner Historizität annähern und ganz andere Sichtweisen generieren als die traditionell-konservativen.

Auffällig an Žižeks Essay ist auch die Betonung der Autorität des Propheten Muhammad, die er in seinem Haushalt gegenüber den Frauen ausgeübt habe. In Bezug auf seine Führungsrolle und bestimmte Wertvorstellungen mag dies zutreffen, aber von angeblich unbegrenzten sexuellen Ansprüchen auf die Frau kann dennoch keine Rede sein. Das zeigt schon allein der Umstand, dass der Islam die Polygamie in der arabischen Kultur zuerst eingeschränkt und schließlich sogar eine monogame Ehe empfohlen hat – was für damalige Verhältnisse einer gravierenden Veränderung der Verhältnisse gleichkam. Der Umgang des Propheten mit Frauen muss also vielmehr im historischen Kontext und unter den Umständen der damaligen arabischen Kultur gesucht und eingeordnet werden.

Tarkan Tek

© Qantara.de 2016

Slavoj Žižek: "Blasphemische Gedanken Islam und Moderne", Verlag: Ullstein, Berlin 2015, 64 Seiten, ISBN-10: 3550081162