Kein Vertrauen in Europa

Dass die Europäische Union nach dem jüngsten EU-Außenministertreffen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei teilweise einfriert, stößt auf Unverständnis bei Ministerpräsident Erdogan, der zunehmend unter politischen Druck im eigenen Land gerät. Günter Seufert informiert.

Dass die Europäische Union nach dem jüngsten EU-Außenministertreffen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei teilweise einfriert, stößt auf Unverständnis bei Ministerpräsident Erdogan, der zunehmend unter politischen Druck im eigenen Land gerät. Günter Seufert informiert.

R. Tayyip Erdogan; Foto: AP
Die Opposition beschuldigt Ministerpräsident Erdogan in Bezug auf die EU-Politik nationale Interessen zu verraten

​​Der türkische Ministerpräsident R. Tayyip Erdogan ist ein begnadeter Redner. Doch selten gelingt es ihm, die Stimmung seiner Landsleute so auf den Punkt zu bringen, wie nach der Entscheidung der EU-Außenminister. Diese hatten am vergangenen Dienstag beschlossen, den Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union deutlich den Wind aus den Segeln zu nehmen.

"Die EU hat der Türkei Unrecht getan!", war Erdogans erste Reaktion darauf, dass Brüssel acht Kapitel der Verhandlungen einfrieren will.

Die Europäer, allen voran die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Jacques Chirac, sprechen im Brustton der Überzeugung davon, dass eingegangene Verpflichtungen erfüllt werden müssen und die Türkei im Rahmen der Zollunion mit der EU ihre See- und Flughäfen für die griechische Republik Zypern öffnen müsse.

Unerfüllte Zusagen

Doch der Mann auf der Straße glaubt Erdogan, wenn dieser sagt: "Wir haben unsere Zusagen im Vertrauen darauf gemacht, dass auch der Europäische Rat sein Wort halten wird." Der hatte, als die Zyperngriechen den Plan von Kofi Annan zur Vereinigung der Insel einseitig ablehnten, versprochen, die wirtschaftliche Isolation der Zyperntürken zu beenden.

Die Zusage ist bis heute nicht eingelöst. Seit damals ist die Linie der Türkei: Öffnung der eigenen Häfen für die Zyperngriechen nur, wenn gleichzeitig Europas Häfen und Flughäfen für den Verkehr aus Nordzypern geöffnet werden. "Daran wird sich nichts ändern!", beharrt Erdogan auch nach der Brüsseler Entscheidung.

Fahnen der EU und der Türkei vor der Moschee in Istanbul; © AP
Das EU-Außenministertreffen führte zu Unverständnis auf der türkischen Seite

​​Mit seiner Bevölkerung bekommt der türkische Ministerpräsident deswegen keine Schwierigkeiten, im Gegenteil. Denn das Gefühl, Europa messe mit zweierlei Maß, ist tief verwurzelt. "Vertrauen Sie der Europäische Union?" fragten die Forscher von Eurobarometer im Oktober auch in der Türkei, und über 60 Prozent der Türken sagten: "Nein!".

"Wie kann es sein", empört sich beispielsweise Fatma Biyik, die an der privaten Bilgi-Universität internationale Beziehungen studiert, "dass die EU von der Türkei verlangt, vor dem Beitritt alle Konflikte mit ihren Nachbarn (Griechenland, Zypern und Armenien) beizulegen, und gleichzeitig eine geteilte Insel Zypern aufnimmt?"

Wie kann es sein, könnte man anfügen, dass die EU den Plan von Kofi Annan unterstützte, der zwei getrennte politische Angehörige, die Zyperngriechen und die Zyperntürken, auf der Insel vorsah und gleichzeitig die zyperngriechische Regierung als die alleinige politische Vertretung aller Zyprioten betrachtet?

Ein großes Pech für die Regierung Erdogan ist freilich, dass ihre auf Ausgleich orientierte Politik nicht nur im griechischen Süden der Insel auf Granit stößt, wo die Regierung jenseits aller politischen Schönfärberei längst Abschied von einer bikommunalen und bizonalen Lösung genommen hat.

Nationalistische Kampagnen

2007 finden in der Türkei gleich zwei wichtige Wahlen statt: im November zum nationalen Parlament, wo Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bisher die absolute Mehrheit hat, und im Mai die Wahl des Staatspräsidenten, der in der Türkei mit großer Machtfülle ausgestattet ist.

Um der AKP Stimmen abzujagen, feuern die Oppositionsparteien seit Monaten den Nationalismus an und beschuldigen Erdogan, nationale Interessen zu verraten. "Wer Zypern preisgibt, verkauft auch die Türkei", lautet das Motto ihrer Kampagne.

Dossier: Türkei und EU - Über die Grenzen Europas

​​Nach dem EU-Gipfel in Brüssel hat sich die Europäische Union mit der Türkei auf den Beginn von Beitrittsverhandlungen verständigt. Skeptiker warnen jedoch davor, dass das Land am Bosporus die für den Beitritt notwendigen politischen und wirtschaftlichen Kriterien noch immer nicht erfüllt

Besonders hervor tut sich dabei Oppositionsführer Deniz Baykal, dessen Volkspartei der Republik (CHP) trotz allem noch immer Mitglied der Sozialistischen Internationale ist. Anklang finden die Sozialisten um Deniz Baykal bei all denen, die verhindern wollen, dass die AKP-Mehrheit im Parlament im Mai Erdogan zum Staatspräsidenten macht.

Nach dem EU-Gipfel in Brüssel hat sich die Europäische Union mit der Türkei auf den Beginn von Beitrittsverhandlungen verständigt. Skeptiker warnen jedoch davor, dass das Land am Bosporus die für den Beitritt notwendigen politischen und wirtschaftlichen Kriterien noch immer nicht erfüllt.

Dann – und so wird das alte Lied von der "islamischen Gefahr" abermals angestimmt – könne die AKP noch leichter pro-religiöse, politische Inhalte umsetzen – etwa Studentinnen mit Kopftuch den Zugang zur Universität erlauben.

So vergeht kaum eine Woche, in welcher der neue Generalstabschef Yasar Büyükanit nicht den Teufel des Islamismus an die Wand malt und darin vom amtierenden Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer unterstützt wird.

Verhärtete Fronten

Das erklärt, warum Staatspräsident und Generalstabschef jüngst Außenminister Abdullah Gül in den Rücken fielen, als dieser die vorübergehende Öffnung eines türkischen Hafens und Flughafens für ein Jahr anbot, um die Zyperngriechen diplomatisch unter Druck zu setzen.

Symptomatisch für diese Lage ist, dass heute auch liberale Politiker wie Erkan Mumcu, Vorsitzender der ANAP, ins nationalistische Geschrei einstimmen, und liberale Kommentatoren wie Cüneyt Ülsever in der Tageszeitung Hürriyet von einer "Staatspolitik" in Sachen Zypern sprechen, deren Modifizierung nicht in die Kompetenzen der gewählten Regierung fällt.

Auf Zypern, dessen Teilung der Grund für die Blockade des türkischen Beitrittsprozesses sein soll, geht derweil die Entwicklung in eine ähnlich bedenkliche Richtung. Die freundliche und tolerante Atmosphäre, die seit Öffnung der Grenzen im April 2003 zwischen Griechen und Türken herrschte, ist dahin.

Seit November 2006 muss jeder, der im Norden der Insel griechisches Eigentum erwirbt oder veräußert, im Süden mit Festnahme rechnen, und Fälle von Gewalt gegen die Zyperntürken häufen sich. Am 22. November wurden die türkischen Schüler der Englischen Schule im griechischen Teil Nikosias in ihrer Schule von griechischen Schülern anderer Schulen angegriffen und verletzt.

Der Zyperntürke Metin Münir, der als Kind besser Griechisch als Türkisch sprach und immer für die Versöhnung der Volksgruppen und die Vereinigung der Insel eintrat, ist heute desillusioniert und schreibt: "Für mich ist der griechische Teil nur noch Ausland. Wir sollten den Griechen Geld und Land abtreten, damit sie uns dafür Frieden geben."

Günter Seufert

&copy Qantara.de 2006

Qantara.de

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