Gleichberechtigung im Namen des Islams

Auch in Deutschland macht die feministische Lesart des Korans, der sogenannte "Gender Jihad", Schule. Eine ihrer wichtigsten Vordenkerinnen ist die Theologin Rabeya Müller. Mit ihr sprach Ulrike Hummel.

Von Ulrike Hummel

"Historisch ist die Frauenbewegung im Islam etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden", meint Amina Wadud, die wohl prominenteste Vertreterin des modernen islamischen Feminismus. Damals bezogen sich Frauen mit ihrem Engagement nicht speziell auf den Islam. Es waren Musliminnen, die sich für die politische Partizipation von Frauen im öffentlichen Leben einsetzten. Das allgemeine Frauenwahlrecht, die Teilhabe an Bildung sowie die Wahrung der Menschenrechte standen im Fokus ihrer Bemühungen.

Heute beziehen sich islamische Feministinnen geradezu auf ihre Religion. "Der islamische Feminismus ist ein auf die Religion ausgerichtetes, geschlechtergerechtes Denken. Die Kraft dafür, diese geschlechtergerechte Sichtweise umzusetzen, nehmen wir aus der Religion, aus dem Koran selbst", sagt Rabeya Müller, die zu den Wegbereiterinnen des islamischen Feminismus in Deutschland zählt.

"Den Feminismus nicht Alice Schwarzer überlassen"

1957 in Mayen in der Eifel geboren, beschäftigte sich die junge Katholikin nach dem Abitur eingehend mit dem Protestantismus, dem Buddhismus, Hinduismus sowie mit dem Judentum und konvertierte Ende der 1970er Jahre zum Islam. "Ich fand, dass das der Anfang eines Weges ist, den ich weitergehen sollte", so Müller rückblickend. Es folgte ein Studium der Pädagogik, Islamwissenschaften und Ethnologie im In- und Ausland bis ihre ersten Arbeiten zur Stellung der Frau im Islam erschienen.

Schon vor ihrem Übertritt zum Islam war Rabeya Müller in der Frauenbewegung aktiv. Auch mit den Aussagen Alice Schwarzers setzte sie sich zu einem frühen Zeitpunkt kritisch auseinander: "Ich habe ein Problem damit, wie pauschal Alice Schwarzer mit dem Islam umgeht und wie wenig differenziert sie ihn sieht", so Müllers Fazit.

Mit dem Begriff "Feminismus" hat die heute 57-Jährige hingegen kein Problem. "Feminismus ist schließlich ein Begriff, den man Leuten wie Alice Schwarzer nicht einfach alleine überlassen darf." Dieser stehe schließlich allen Frauen zu. Doch profitiert der islamische Feminismus nicht auch von den Errungenschaften der einstigen Ikone der Frauenbewegung? Müller sieht das anders. "Ich glaube, dass wir muslimisch-feministischen Theologinnen eher von bestimmten Frauen innerhalb der christlich-feministischen Ideologie profitieren", so ihr Fazit.

Für eine geschlechtergerechte Lesart des Korans

In den USA kämpfen Amina Wadud und ihre Mitstreiterinnen für eine Neuauslegung des Korans, in Europa setzen sich Riffat Hassan oder Asma Barlas für eine frauengerechte Lesart islamischer Schriften ein. Gibt es auch in Deutschland Ansätze eines "Gender Jihad"? "Das Zentrum für Islamische Frauenforschung (ZIF) in Köln hat bereits Ende der 1990er Jahre die islamische Frauenbewegung in Deutschland etabliert", berichtet Zentrums-Mitbegründerin Rabeya Müller. Es sei bislang das einzige Frauenzentrum der Bundesrepublik, das diese Form der Theologie umsetze. Im Fokus der Bemühungen stehe die Entwicklung einer geschlechtergerechten Sichtweise auf den Koran. Durch die Vernetzung mit anderen islamisch-feministischen Theologinnen weltweit habe man festgestellt, dass es vielerorts Bestrebungen in dieser Hinsicht gäbe.

Islamwissenschaftlerin und Vorbeterin Amina Wadud; Foto: Adrian Dennis/AFP/Getty Images
Mit 20 Jahren zum Islam bekannt, tritt die Islamwissenschaftlerin und Vorbeterin, Amina Wadud, heute für die Gleichstellung der Frauen im Islam ein. Bekannt wurde die gebürtige Amerikanerin als sie 2005 in New York ein traditionelles Freitagsgebet vor einer gemischten Gemeinde leitete.

Erste Ansätze einer geschlechtergerechten Sichtweise im Islam bestünden darin, Unrecht zu verbalisieren. Das bedeute, die alltäglichen Ungerechtigkeiten in Bezug auf die Geschlechterdifferenz klar zu benennen – und sich dagegen zu wehren. "Wenn ich davon ausgehe, dass Gott gerecht ist, dann muss ich die Schriften, die ihm zugeschrieben werden, auch in diesem Licht lesen dürfen. Und das heißt, ich darf Fragen stellen", so Rabeya.

Das Unrecht zu benennen bedeute auch, sich gegebenenfalls dem Patriarchat zu widersetzen. Auch dafür ist Rabeya Müller bekannt. Gegen welche Missstände aber wehren sich islamische Frauenrechtlerinnen in Deutschland? Vor allem innerhalb der Lehre und in exponierten Stellungen gäbe es kaum Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts.

Ein großes Ärgernis sei auch die derzeitige Regelung, dass es Musliminnen, die mit einem nicht-muslimischen Mann verheiratet sind, oftmals untersagt werde, konfessionellen islamischen Religionsunterricht zu erteilen. Und es sei an der Zeit, die Frage des weiblichen Imamats endlich auch öffentlich zu diskutieren, so Rabeya Müller.

Seitens der Verbände, die im Koordinationsrat der Muslime (KRM) organisiert seien, höre man immer wieder den Hinweis, dass ja eine für die Geschlechter offene theologische Ausbildung an Hochschulen prinzipiell möglich sei. "Wir dürfen eines aber nicht verwechseln: Imame können ja nicht an Hochschulen ausgebildet werden", so Müller. "Dort werden Theologen ausgebildet, die erst später in der Gemeinde Imame – oder im türkischen Kontext –  Hodschas wurden." Insofern wäre es wichtig, hinsichtlich des weiblichen Imamats mit den Verbänden eine gemeinsame Position zu entwickeln.

"Polygamie ist für mich schwierig"

Innerhalb der Muslimischen Gemeinde Rheinland, der spirituellen Heimat Rabeya Müllers, leiten Frauen und Männer abwechselnd die Gebete – ein Tabubruch aus der Sicht vieler Muslime. "Ich kann keinen Hinderungsgrund in der für mich relevanten Schrift, dem Koran, erkennen, das nicht zu tun." Solange die Gemeinde, die hinter einer Predigerin bete, auch hinter der Person stehe, sei das völlig in Ordnung. Dennoch hat die Imamin dafür Verständnis, dass es Gemeinden gibt, die das nicht wollen. Das sei ihr gutes Recht, so Müller. Innerhalb der islamischen Community ist die Kölner Theologin für ihre Tabubrüche durchaus bekannt.

Islamische Eheschließung zwischen einer muslimischen Frau und einen Christlichen
Islamische Eheschließung zwischen einer muslimischen Frau und einem christlichen Mann, begleitet von Rabeya Müller, als Zeugin der Eheschließung vor Gott führt sie auch Vorgespräche. Davon, Ehen zu bezeugen bei denen Polygamie im Vordergrund steht, distanziert sie sich.

Denn Rabeya Müller begleitet auch islamische Trauungen. Sie fungiert als Zeugin der Eheschließung vor Gott und führt die Vorgespräche hinsichtlich des zivilrechtlichen Vertrages, wo sie Paare auch über Regelungen einer etwaigen Trennung berät.

Aus Sicht der Theologin spricht nichts dagegen, dass muslimische Frauen auch nicht-muslimische Männer heiraten dürfen. Diese Ansicht teilen nicht viele. Aber es gibt auch Grenzen für die Feministin: "Bei einer Trauung, auf der ein Mann eine zweite Frau heiraten will, möchte ich keine Zeugin sein. Das ist für mich persönlich schwierig".

Der Islam erlaube das zwar grundsätzlich, aber es gäbe auch Theologen, die die koranische Aussage so interpretierten, dass Polygamie in der Praxis undurchführbar sei. Die Frage der Trauung gleichgeschlechtlicher Paare lässt Rabeya Müller offen. Eine solche Anfrage habe sie bislang noch nicht gehabt. "Ich weiß, dass es Imame und Imaminnen gibt, die das tun." Man müsse in einem solchen Fall nach theologischen Begründungen dafür und dagegen suchen, und dann abwägen.

Mehr Mitspracherecht in Moscheegemeinden

Dass Frauen und Männer innerhalb der Muslimischen Gemeinde Rheinland gemeinsam beten, ist ebenfalls umstritten. Hier verweist die Theologin gerne auf eine Textstelle in der Sunna, aus der abzuleiten sei, dass das aus islamischer Sicht möglich sei.

Die elfjährige Muslimin Asiye liest im Koran; Foto: Picture-alliance/dpa
Die elfjährige Muslimin Asiya liest beim „Tag der offenen Moschee“ (03.10.2013) in Dresden im Koran. Laut Rabeya Müller und Amina Wadud sollen Frauen mehr Einfluss bei der Zusammenarbeit in den Gemeinden finden. Sie sollen im alltäglichen islamischen Leben nicht nur zuarbeiten, sondern mitgestalten.

Handlungsbedarf für mehr Emanzipation und Geschlechtergerechtigkeit innerhalb der Moscheegemeinden gibt es aus Sicht der Islamwissenschaftlerin durchaus. Die Frauen selbst müssten lernen, dass sie nicht nur "Zuarbeiterinnen", sondern aktive Mitgestalterinnen des alltäglichen islamischen Lebens seien, so Müller: "Wenn ich an der Arbeit partizipiere, dann muss ich auch an den Rechten partizipieren." Musliminnen sollten aus eigener Initiative für Mitspracherechte und Respekt kämpfen. "Und wenn getrennte Räume zum Beten bevorzugt werden, ist es kein Idealzustand, dass der Frauenraum häufig wie ein Abstellraum aussieht."

Mit ihren Denkansätzen und ihrem Selbstverständnis ist Rabeya Müller eine der wenigen deutschen Theologinnen, die sich für einen Feminismus im Islam einsetzt. Die in Köln lebende Muslima ist an der Gestaltung von Lehrbüchern beteiligt, bildet Religionspädagogen aus und verantwortet zahlreiche Veröffentlichungen.

Als stellvertretende Vorsitzende ist sie derzeit am Zentrum für Islamische Frauenforschung aktiv. Herausragend ist ihr Engagement im interreligiösen Dialog, den Rabeya Müller in zahlreichen Vereinigungen praktiziert. Zu den Projekten, an denen sie gegenwärtig arbeitet, zählt die redaktionelle Mitarbeit an einer neuen interreligiösen Frauenzeitschrift mit feministisch-theologischem Schwerpunkt.

Ulrike Hummel

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de