Macht und Ausgrenzung

Die weltweite Solidarität nach dem gewaltsamen Tode von George Floyd sollte Anlass sein, rassistische Strukturen und auf Unrecht basierende Privilegien grundlegend zu hinterfragen - nicht nur in Europa. Ein Essay von Tayfun Guttstadt

Essay von Tayfun Guttstadt

Die globale Anteilnahme und Solidarität am historischen wie tagtäglichen Leid der schwarzen Bevölkerungsteile der USA waren von einer Größe, wie sie es lang nicht gegeben hat. Auch außerhalb der USA und Europas gab es vielerorts große Proteste. Gerade im Nahen Osten und in den nahöstlichen Communities in Europa und den USA war die Solidarität groß, schließlich sieht man sich selbst ebenfalls als Opfer des Rassismus der Weißen des Nordens, als Geschändete der Geschichte, die nun ebenso lautstark und wütend nach Gerechtigkeit schreien.

Allen voran Kurd*innen und Palästinenser*innen haben ohne zu zögern Parallelen ihrer Sache zum Kampf der Schwarzen in den USA gezogen - meist mit der Behauptung, das eigene Leid stehe dem der Schwarzen in nichts nach. Doch nicht nur Kurden und Palästinenser, die meisten Menschen des Nahen Ostens sind der Meinung, das Problem des Rassismus betreffe nicht nur Schwarze. Das mag bis zu einem gewissen Grade zutreffen - es verwässert jedoch das eigentliche Problem: den eigenen Rassismus.

Jahrhundertelange Tradition der Sklaverei

Die Muslime des Nahen Ostens haben über ein knappes Jahrtausend den Mittelmeerraum sowie weite Teile Afrikas und Asiens dominiert. Hierbei haben sie Millionen von Menschen versklavt, nicht nur, aber allen voran Menschen schwarzer Hautfarbe. Menschen, vor allem aus Schwarzafrika, wurden auf Sklavenmärkten in die ganze Welt verkauft, ihr Sklavendasein stand in Einklang mit geltendem Recht, das meist in Händen der Vorfahren heutiger Kurden, Türken und Araber lag.

Schwarze Menschen wurden als Diener, als Arbeiter und als Soldaten eingesetzt, ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr Gemütszustand spielten hierbei keinerlei Rolle. Schwarze Männer wurden kastriert, damit sie als Diener und Wächter im Harem oder im Haushalt der Wohlhabenden eingesetzt werden können.

Bis heute stehen Schwarze ganz unten in der gesellschaftlichen Hierarchie - sie werden erniedrigt, sie haben weniger berufliche Möglichkeiten, sie werden scherzhaft als "Sklaven" oder Eunuchen bezeichnet, in Zeiten gesellschaftlicher Unruhen wie des Arabischen Frühlings sind sie nicht selten tätlicher Gewalt ausgesetzt.

Ein Sklavenmarkt auf Sansibar, Darstellung von 1878; Quelle: picture-alliance/dpa
Sklavenhochburg Sansibar: Ab dem 17. Jahrhundert blühte in Ostafrika der Sklavenhandel. Immer mehr Händler aus Oman ließen sich auf Sansibar nieder, die Inseln nahmen wegen des großen Handels an der Suaheli-Küste eine immer wichtigere Rolle im internationalen Warenverkehr - und infolge dessen auch im Sklavenhandel - ein. So entstand der damals größte Sklavenmarkt Ostafrikas.

Auch wenn in fast allen Ländern des Nahen Ostens die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde, bestehen die strukturellen Ungleichheiten fort, die Schwarze, ähnlich wie in den USA und Europa, von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Reichtum fernhalten. Schwarze sind fast nie in Führungspositionen oder im Fernsehen zu sehen, und keine nicht-schwarze Familie will ihre Kinder mit Menschen schwarzer Hautfarbe vermählen.

Bilal als Quotenschwarzer muslimischer Geschichtsschreibung

Mit Verweis auf einzelne Schwarze, die etwa in der Frühzeit des Islam oder in der Osmanischen Armee bedeutende Rollen und möglicherweise Anerkennung erlangt haben, soll all dies vergessen gemacht werden. Doch damit nicht genug: auch die Geschichte des Islam wird "weißgewaschen" bzw. "braungewaschen". So, wie die meisten Christen des Nordens sich Jesus - entgegen aller Plausibilität - als blondgelockten Jüngling mit milchweißer Haut vorstellen, werden die frühen Muslime allesamt als Araber imaginiert. Bis auf Bilal, gewissermaßen der Quotenschwarze der islamischen Geschichtsschreibung: einer der ersten Konvertiten, der sich mit seiner schönen Stimme als Muezzin hervorgetan haben soll und unermüdlich als Beispiel der unveränderlich egalitären Kraft des Islams herhalten muss.

In einigen Ländern Afrikas wird die Unterdrückung und Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung durch Muslime bereits seit Längerem intensiv diskutiert. Manchen Aktivisten zufolge sei die muslimische Eroberung ebenso verheerend gewesen, wie der europäische Kolonialismus, oder gar schlimmer. Doch hier soll es nicht um einen Vergleich dieser historisch wie strukturell sehr unterschiedlichen Phänomene gehen.

Eine türkische Miniaturmalerei zeigt Bilal al-Habaschi; Quelle: Wikipedia
Bilal als Quotenschwarzer muslimischer Geschichtsschreibung: Bilal ibn Rabah al-Habashi war einer der ersten Konvertiten, der sich mit seiner schönen Stimme als Muezzin hervorgetan haben soll und unermüdlich als Beispiel der unveränderlich egalitären Kraft des Islams herhalten muss.

Es geht darum, die Komplexität menschlicher Geschichte sowie die Allgegenwärtigkeit von Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung anzuerkennen. Die Welt war auch bis zu Beginn des europäischen Imperialismus keineswegs frei von Überlegenheitsvorstellungen sowie Ausgrenzung und Hass aufgrund von Hautfarbe, Religion, Sprache oder Abstammung.

Wenn wir Rassismus als Machtinstrument begreifen, liegt es nahe, dass Muslime als bis vor relativ kurzer Zeit eine der wirtschaftlich, militärisch und kulturell dominantesten Gruppen der Welt in ähnlichem Maße Ausgrenzungsmechanismen zur Legitimierung der sie privilegierenden Machtstrukturen genutzt haben, wie Westeuropäer hunderte Jahre nach ihnen. Rassismus als (Pseudo)-Wissenschaft mag eine Erfindung der Europäer, vor allem der Ära der Wissenschaft sein, das Einteilen der Bevölkerung nach Kriterien wie Hautfarbe, Ethnie oder Religion, mit unterschiedlichen Stellungen und Rechten gibt es leider bereits seit Menschengedenken. 

Es ist zudem von zentraler Bedeutung, sich das Ausmaß der Folgen vor Augen zu halten, den der arabisch-islamische, persische, seldschukische und osmanische Imperialismus bis heute haben.

Dass Arabisch die verbreitetste Sprache vom Golf bis Gibraltar ist, liegt sicher nicht daran, dass es eine besonders einfach zu erlernende Sprache ist. Ähnlich wie Französisch und Englisch hat es sich durch ökonomischen, politischen und militärischen Druck etabliert - direkten wie indirekten.

Etliche Kulturen und Sprachen wurden durch arabischen, persischen und türkischen Imperialismus unterdrückt, mitunter verdrängt oder gar mutwillig zerstört. Dass der Islam von Marokko bis in die Mongolei die dominante Religion ist, hat nicht nur theologische Gründe. Juden, Armenier, Griechen und zahlreiche andere Völker wurden zu Minderheiten in ihren historischen Heimatländern.

Neben Konversionen zum Islam aus Überzeugung gab es auch Zwangskonversionen und solche aus Opportunismus: wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens waren Muslimen vorbehalten, der Übertritt zur Religion der Herrschenden konnte ungeahnte Möglichkeiten eröffnen.

Gekoppelt mit weiteren Faktoren wie gelegentlichen Ausschreitungen gegen und Massakern an Minderheiten, Verwüstung durch Kriege sowie politischem und ökonomischem Druck wurde nicht-muslimisches Leben langsam aber sicher ausgelöscht. In den meisten Regionen des Nahen Ostens gibt es heutzutage kaum noch Minderheiten - der Exodus der nahöstlichen Christen etwa dauert bis heute an.Die Folgen des arabischen, türkischen und persischen Imperialismus

Dies zu unterstreichen ist kein penibler Vergleich, der die Gräueltaten der Europäer relativieren soll. Die Folgen des arabischen, türkischen und persischen Imperialismus sind bis heute in der politisch, wirtschaftlich und militärisch exponierten Stellung dieser Völker und ihrer Nationalstaaten deutlich spürbar. Die Amazigh, die Berber und die Kurden etwa haben kaum Möglichkeit, sich für ihre Interessen einzusetzen - auch wenn sie durch Assimilation als Individuen mitunter wichtige Positionen in der Gesellschaft einnehmen können.

[embed:render:embedded:node:16981]Kurden und Palästinenser etwa profitieren jedoch zeitgleich auch von einer generellen muslimischen Dominanz im Nahen Osten. Ihr Problem ist in erster Linie die Staatenlosigkeit und begann in den vergangenen hundert Jahren - bis zur Erschaffung der Nationalstaaten gehörten sie, unabhängig von ökonomischer Position, als Muslime zur privilegierten Mehrheit. Kurden waren maßgeblich an der Ermordung der Armenier und Assyrer beteiligt, die Mehrheit der heutigen Palästinenser war als Muslime anderen Bevölkerungsgruppen gegenüber höhergestellt. Zudem können sie, wenn sie von ihren nationalen Befreiungsbewegungen absehen, auch heute als Teil einer muslimischen Mehrheit im Nahen Osten von zahlreichen Privilegien profitieren. 

Auch im Konflikt zwischen Israel und Palästina, genauer: in den Reaktionen hierauf, macht sich ein imperiales Erbe auf arabischer Seite bemerkbar. Keinesfalls sollen hier die Verbrechen der hochgerüsteten israelischen Armee kleingeredet werden, oder die Massaker an Zivilisten während der Staatsgründung. In der generellen Ablehnung eines jüdischen Staates nicht nur der Araber, sondern fast aller Muslime, offenbart sich nichts als eine privilegierte Sicht auf den Konflikt.

Dass auch die Juden im Zeitalter des Nationalstaates einen Staat für sich beanspruchen, wird als Frechheit gewertet. Bewusstsein dafür, dass Juden auch im Nahen Osten stets Opfer von Diskriminierung verschiedener Art (etwa das Verbot Waffen zu tragen) und als solche unter ständigem Rechtfertigungsdruck sowie angewiesen auf Schutz durch die Obrigkeiten waren, fehlt komplett. Kurz gesagt: es stimmt, das Palästina bis 1948 mehrheitlich arabisch-muslimisch war - dass auch dieser Umstand Ergebnis von Jahrhunderten von Kolonisierung und militärischer Herrschaft durch muslimische Imperien ist, wird jedoch ignoriert oder geleugnet. Dies ist eine privilegierte Sicht, die es zu überwinden gilt.

Selbstverständlich müssen auch die Israelis ihre aus militärischer Überlegenheit entstehenden Privilegien hinterfragen, doch dies ist nicht das Thema dieses Artikels. Im Gegensatz zu Arabern und Türken werden Juden, Jahrtausenden der Verfolgung zum Trotz, meist als privilegierte Weiße, sprich Unterdrücker, wahrgenommen und präsentiert.

Orientalistische Narrative überwinden

Dieses Denken durchzieht auch weitere Diskussionen: wenn Falafel und Hummus als israelische Küche präsentiert werden, so sei dies kulturelle Aneignung durch Kolonisatoren - an dieser Kritik ist sicher etwas dran. Doch wieviel der Kultur der Levante ist wahrhaft arabisch? Ist sie möglicherweise griechischen, jüdischen, assyrischen, kurdischen oder koptischen Ursprungs? Das Erbe dieser Kulturen wird durch den arabischen Nationalismus ebenso unsichtbar gemacht, wie die palästinensische Kultur durch den Staat Israel. Dass der Prozess der Arabisierung (Türkisierung, Kurdisierung, Muslimisierung) der lokalen Kultur langsamer und schleichender vonstatten ging, als die Israelisierung Palästinas ändert nichts am Grundproblem. 

Eine Adäquate Antwort auf die geschilderten Probleme ist es beileibe nicht, all dies umkehren zu wollen. Weder sollen die Türken zurück nach Zentralasien, noch die Araber nach Saudi-Arabien, oder die jüdischen Bewohner Israels in die Heimatländer ihren Urgroßeltern. Ob die Gründung eines Nationalstaates für jede Bevölkerungsgruppe Besserung bringt, ist ebenfalls sehr fraglich.

Ohnehin sind die auch in diesem Artikel wie monolithische Blöcke verhandelten ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen keinesfalls so eindeutig, wie generell angenommen, sondern vielschichtig und umstritten. Oft sind die nationalen Bezeichnungen erst in jüngster Zeit populär geworden, und es ist nicht immer klar, wer unter welchen Umständen dazu gehört und wer nicht.

All dies erschwert eine auf Gerechtigkeit und Ausgleich abzielende Beschäftigung mit dem angerissenen Themenfeld. Es ist jedoch an der Zeit, die Diskussion um die Verantwortung von Arabern, Türken, Persern und Kurden anzustoßen. Eine vereinfachende Einteilung der Welt, in der ausschließlich Europäer Kolonisatoren und Ausbeuter, alle anderen bloß Opfer sein können, ist nicht nur irreführend, sie reproduziert auch orientalistische Narrative.

Schließlich versperrt die Annahme, der Westen sei stets rationales Subjekt seines Handelns, "der Orient" hingegen irrationales Objekt des Geschehens, nicht nur den Blick auf historische Tatsachen, er wertet Araber, Türken, Perser und Kurden auch subtil ab. Wer Weltreiche erschaffen und Kontinente unterworfen hat, muss jedoch Verantwortung tragen. Überlassen wir diese Diskussion nicht den Falschen.

Tayfun Guttstadt 

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