Ägyptens Auswanderungsstrom reißt nicht ab

Hunderttausende Ägypter leben und arbeiten im Ausland. Beispiele aus der ägyptischen Stadt Ismailiya deuten darauf hin, dass es die jungen Männer auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand heute weniger an den Golf, sondern nach Westeuropa treibt. Von Monika Bergmann

Hunderttausende Ägypter leben und arbeiten im Ausland. Beispiele aus der ägyptischen Stadt Ismailiya deuten darauf hin, dass es die jungen Männer auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand heute nicht mehr so sehr an den Golf, sondern nach Westeuropa treibt. Von Monika Bergmann

Foto: AP
Den Blick nach Westen gerichtet - junge ägyptische Männer am Suezkanal

​​Mahmud sitzt blass und verstört auf einer einfachen Bank im Haus seiner Eltern in Abu Garesha, einem Dorf in der Nähe der ägyptischen Stadt Ismailiya am Suezkanal. Er sei heute zum ersten Mal aufgestanden, seitdem ihn die Italiener vor zwei Wochen heimgeschickt hätten, erzählt seine Mutter und sieht Mahmud besorgt an.

Der 28-Jährige, der ein Geographiestudium absolviert hat, hebt langsam den Kopf und sagt: "Als ich vor sieben Monaten in Mailand ankam, war ich euphorisch. Jetzt sehe ich nur noch schwarz." Die Abschiebung ging schnell und reibungslos. Mahmud war wie gewohnt in Bergamo zur Arbeit gegangen und hatte mit seinen italienischen Kollegen Gipsplatten in Fertighäusern montiert.

Auf einmal sei die Polizei erschienen und habe ihn nach seinem Ausweis gefragt. Mahmud hatte keinen dabei und wurde mit zum Posten genommen. Am nächsten Tag wurde auf seine Kosten das Flugticket ausgestellt, und am übernächsten Tag saß er in einer Maschine nach Kairo.

Vom Versager zum Unternehmer

"Es ging nicht um mich persönlich. Ich bin nur einer von vielen", stellt Mahmud fest. Mit ihm, glaubt er, habe die italienische Polizei ein Exempel statuieren und die zahllosen jungen Ägypter, welche ihr Heil in der illegalen Emigration nach Europa suchten, von der Verwirklichung ihres Vorhabens abschrecken wollen.

In Abu Garesha ist Mahmuds Rückkehr wider Willen zwar zur Kenntnis genommen worden, doch keiner der Bauernsöhne, welche zurzeit versuchen, nach Italien zu gelangen, hat seinen Plan aufgegeben. "Die Armut hier ist zu groß und die Zukunftschancen sind zu gering, als dass uns etwas in Abu Garesha halten könnte", erläutert Mahmud.

Auch fünf Jahre nach Studienabschluss hat er noch keine Stelle gefunden. Hätte er eine, wäre sein Anfangsgehalt mit umgerechnet so gering, dass er weiter die Unterstützung durch seinen Cousin Abdallah annehmen müsste.

Abdallah ist einer der rund 200 Männer aus dem 2000-Seelen-Dorf Abu Garesha, welche gutes Geld in Bergamo verdienen. Zurzeit macht er "Hochzeitsferien" im Heimatdorf.

"Die Ägypter aus Ismailiya sind in Italien beliebt", erzählt Abdallah. Sie handelten nicht mit Drogen, sondern kämen, um zu arbeiten. Die Männer aus Abu Garesha seien in Bergamo auf dem Bau beschäftigt; sie arbeiteten für 10 Euro pro Stunde, während die italienischen Arbeiter 25 Euro erhielten.

Abdallah, welcher 1992 nach Italien emigriert war, hatte Glück. Als die italienische Regierung 1998 zum vierten Mal innerhalb von zwölf Jahren beschloss, den Status langjähriger Schwarzarbeiter zu legalisieren, erhielt er die ersehnte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. 2002 hatte er genug gespart, um ein kleines Bauunternehmen zu gründen.

Seine ersten Ferien habe er redlich verdient, sagt Abdallah und lehnt sich im Sessel zurück. Die phantasievollen Stuckrosetten an der Wohnzimmerdecke zeigen, was die Ägypter in Bergamo gelernt haben. Die Braut, eine Cousine Abdallahs, wird nicht mit nach Italien reisen.

Dazu seien die Sitten dort zu schlecht, meint Abdallah lachend. Dafür führe er sie hier aus. Er beugt sich aus dem Fenster und zeigt auf die staubige Strasse. Dort steht - zum Beweis, dass er, der ehemalige Schulversager, es zu etwas gebracht hat - sein dunkelblauer BMW.

Trotz Hindernissen nach Europa

Kein Wunder, dass das Beispiel Abdallahs in Abu Garesha Schule macht. Sein Cousin Mahmud zahlte 2003 für ein gefälschtes Touristenvisum nach Ungarn 25.000 ägyptische Pfund, dazu kamen die Aufenthaltskosten in Budapest und rund 1000 Euro für die Schlepper.

Mahmuds Familie verkaufte eine Are Land, um das Geld aufzubringen. Die Schlepper, sagt Mahmud, nähmen viel Geld, seien jedoch zuverlässig. "In Budapest holten mich nach 14 Tagen ein paar Männer ab und brachten mich zum Bahnhof. Der Zug fuhr dann ohne Kontrollen durch bis Venedig. Alle Beamten waren bestochen worden."

Nach einer Statistik der "International Organization for Migration" leben zurzeit 2,7 Millionen Ägypter außerhalb ihrer Heimat. 90.000 Ägypter - 55 Prozent derjenigen, die in der Europäischen Union leben - befinden sich in Italien; nur ein Drittel von ihnen besitzt eine Aufenthaltsgenehmigung.

Noch immer hält sich die Hälfte aller ägyptischen Emigranten in den arabischen Ölländern auf. Die beiden letzten Golfkriege und das Streben Saudi-Arabiens, seine Arbeiterschaft zu nationalisieren, haben sich jedoch negativ auf den Strom der Auswanderung in die Golfregion ausgewirkt. Ein beliebter Ersatz ist Libyen geworden.

Da Ägypter ohne Visum nach Libyen einreisen können, die dortigen Verdienstmöglichkeiten aber geringer sind als am Golf, emigrieren vornehmlich Arme aus Oberägypten nach Bengasi und Tripolis.

In der Provinz Ismailiya, wo durch moderne Bewässerungsmethoden der Lebensstandard relativ hoch ist, streckt man die Fühler nach Europa aus. Die Ziele werden je nach der Immigrationspolitik der einzelnen Länder gesteckt. In den neunziger Jahren wurde Deutschland dank seines großzügigen Asylgesetzes zum beliebten Emigrationsland.

Der Bauer Ibrahim, der drei Aren Mangohaine im Dorf al-Aali besitzt, reiste 1992 als Geschäftsmann per Flugzeug direkt nach Frankfurt. Das Visum für zehn Tage und der Flug, beides von einer deutsch-ägyptischen mafiaähnlichen Organisation besorgt, kosteten umgerechnet 6000 Schweizer Franken. Ibrahim tauchte in Frankfurt unter und reiste weiter nach Warendorf bei Münster, wo ägyptische Bekannte in einem Flüchtlingsheim untergekommen waren.

Genau wie diese erhielt Ibrahim, der sich lächelnd als "ganz normaler Muslim" bezeichnet, nach einem einzigen Interview Asyl als "verfolgter Islamist". Als Asylant bekam er 400 Mark monatlich, zusätzlich verdiente er Geld schwarz in einem Restaurant. Sein Gehalt von 2000 Mark schickte er nach Hause, wo seine Frau begann, ein neues Haus zu bauen und Land zu kaufen.

Als sein Bruder Mohammed es 1996 Ibrahim gleichtun wollte, stellte die deutsche Botschaft nicht mehr blind Visa aus. Doch die Ägypter in Europa hatten längst herausgefunden, wie man trotzdem dort einreisen konnte. Mohammed kaufte ein Visum für die Einreise in die Ukraine, bestieg in Kiew einen Zug mit geschmierten Beamten und fuhr nach Polen.

"Nach Deutschland führte nunmehr nur noch der Weg zu Fuß" - für 400 Dollar», erinnert sich Mohammed. Die heimliche Grenzüberquerung sei trotz den kenntnisreichen polnischen Schleppern gefährlich gewesen.

Im Heim in Warendorf, wo die Asylbeamten inzwischen weniger leichtgläubig waren, stellte er sich erst gar nicht vor. Mohammed nahm eine Wohnung und arbeitete schwarz auf dem Bau.

"Während meines sechsjährigen Aufenthalts war ich zwei Jahre lang arbeitslos, schließlich bin ich 2002 ohne Ersparnisse heimgekehrt. Weder mein Traum vom großen Geld noch der von der Freiheit haben sich erfüllt."

Physiker als Tellerwäscher in London?

Im Stadtzentrum von Ismailiya, auf dem Bahnhofplatz, herrscht dichtes Gedränge. Zahllose Personen zieht es in die rundum gelegenen schmucken Textilläden, wo sie bunt bedruckten Baumwollstoff für eine neue Jallabiya kaufen.

Den Ladeninhabern geht es gut, dennoch träumen ihre Söhne vom Auswandern. "Für ägyptische Verhältnisse verdiene ich gut", sagt Ahmed, der in der Boutique seines Vaters arbeitet.

Doch auch mit einem Verdienst von umgerechnet 300 Schweizer Franken könne er sich weder eine passable Wohnung noch ein Auto leisten. Die Emigration, und zwar nach Großbritannien, sei deshalb vordringlich.

"Momentan sind 22 Personen aus Geschäften am Bahnhofplatz in London. Alle arbeiten als Tellerwäscher", sagt Ahmed. Er habe zwar Physik studiert, doch für 1000 Pfund Sterling pro Monat sei er sich nicht zu schade, Hilfsarbeiten auszuführen.

Eine Schwachstelle der Einreisebestimmungen hat die Söhne der Ladeninhaber während des vergangenen Jahres nach London gebracht. "Sie sind über London mit einem Touristenvisum für die Türkei eingereist", erzählt Ahmed. Wegen des langen Transits stellten ihnen die Einwanderungsbeamten ein Kurzzeitvisum für 24 Stunden aus. Alle tauchten in der Millionenstadt unter.

Der illegale Aufenthalt in London sei für Araber problemlos, mischt sich ein Freund Ahmeds ein; kein Polizist kontrolliere, wie heutzutage in Deutschland üblich, die Papiere. Den Kunstgriff habe Großbritannien inzwischen erkannt.

Auch Touristen- und Geschäftsvisa für England würden heute ohne ein nachgewiesenes Barvermögen von umgerechnet 50.000 Schweizer Franken nicht an junge, unverheiratete Ägypter ausgestellt.

Der 25-jährige Ahmed versuchte deshalb, ein "Krankenvisum" zu ergattern. Ein Arzt in Ismailiya bescheinigte ihm, eine schlimme Krebsart in der Wirbelsäule zu haben. Die britische Botschaft sagte ihm ein Visum zu, doch nur, wenn er vorher die für die Operation notwendigen 65.000 Sterling Pfund überweise.

Trotz allen Erschwernissen haben weder Ahmed noch seine Freunde den Traum, in Europa zu Freiheit und Wohlstand zu gelangen, aufgegeben. "Es gibt einen Trick, gegen den keine noch so wachsame Immigrationsbehörde ankommt", sagt ein gut aussehender Mann. Er werde nach Sharm al-Sheikh reisen und eine Arbeit im Restaurant oder in einem Tauchzentrum annehmen.

Früher oder später werde ihm eine einsame Europäerin über den Weg laufen, die sich gerne von einem heißblütigen Ägypter verwöhnen lasse. Die Heirat mit ihr sei das "Sesam-öffne-dich" für die Schengen-Länder.

Die Osterweiterung der EU eröffne in dieser Hinsicht ganz neue Möglichkeiten, sinniert Ahmed. Junge arme Slowenierinnen, Slowakinnen oder Lettinnen könne man vermutlich auch ohne große Liebesschwüre, dafür mit ein paar Scheinen überzeugen, dass eine Eheschließung mit einem Ägypter nur Vorteile bringe.

Monika Bergmann

Der Artikel erschien ursprünglich in der Neuen Zürcher Zeitung, vom 8. Juni 2004