Medienberichterstattung im Syrienkonflikt
Rettet die Wahrheit – auch im Krieg!

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität des Syrienkonflikts vertraut eine wachsende Zahl "kritischer Bürger" im Internet kursierenden Verschwörungstheorien mehr als UN-Untersuchungen, die wissenschaftliche Standards erfüllen müssen. Ein Essay von Kristin Helberg

Wie oft haben Sie schon gehört, dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist? Und dass man – etwa im Syrien-Konflikt – keiner Seite trauen könne, weil alle nur Propaganda verbreiteten und einen „Krieg der Bilder“ führten? Wahrscheinlich sehr oft. Bis manch Zeitungsleser und Fernsehzuschauer beschloss, nichts mehr zu glauben.

Und manch Journalist resigniert dazu überging, alles abzubilden, was zu einem Ereignis gesagt wird. Giftgasangriff in Syrien? "Assad war es", sagen die einen, "die Rebellen waren es", behaupten die anderen.

Am Ende bleibt das Gefühl, es gar nicht wissen zu können, weil die Wahrheit in diesem Krieg seit Langem gestorben ist. Schon sind wir in die Falle getappt. Die Falle der Verschwörungstheoretiker und Fake-News-Verbreiter, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass alles, was jemals untersucht, recherchiert und belegt wurde, auf dem Friedhof des Post-Faktischen landet. Wo es mit so vielen "alternativen Fakten" zugeschüttet wird, dass niemand mehr weiß, was und vor allem wem er noch glauben soll und sich kaum jemand die Mühe macht, nach der Wahrheit zu graben.

Dabei gibt es sie, die Wahrheit – erst recht im Krieg. Denn dort passieren Verbrechen, die Täter und Opfer kennen, so dass ihre Aufklärung nur eine Wahrheit – nämlich den Tathergang – zutage befördert.

Die Wahrheit nicht zu Grabe tragen

Der Satz von der Wahrheit als Opfer des Krieges stammt aus dem Jahr 1914. Er besagt, dass Kriegsparteien ungeachtet der Tatsachen gerne ihre Versionen des Geschehens verbreiten. Das sollte nicht dazu führen, dass wir die Wahrheit zu Grabe tragen, sondern im Gegenteil uns ermutigen, sie zu suchen.

Aber ist Wahrheit nicht relativ? Hat nicht jeder seine eigene Wahrheit? Nein, jeder hat seine Wahrnehmung, seine Sichtweise auf bestimmte Ereignisse. Genau diese Unterscheidung ist im Krieg grundlegend: Wahrheit lässt sich objektiv ermitteln, Wahrnehmung ist subjektiv.

In Syrien gibt es so viele Versionen dieses Krieges wie es Syrer gibt. Jeder einzelne hat gute Gründe, die Dinge so zu sehen, wie er sie sieht – je nachdem wo und wie er den Krieg erlebt hat. Wer an der Küste keine Angst vor Luftangriffen haben musste oder in den kurdischen Gebieten im Nordosten relativ sicher war, denkt anders als die Bewohner von Ost-Ghouta oder Ost-Aleppo, die über Jahre vom Regime bekämpft wurden.

Zerstörtes Ost-Ghouta bei Damaskus am 23. Februar 2018; Foto: Getty Images/AFP
Regionales Trümmerfeld: In Syrien gibt es so viele Versionen dieses Krieges wie es Syrer gibt. Jeder einzelne hat gute Gründe, die Dinge so zu sehen, wie er sie sieht – je nachdem wo und wie er den Krieg erlebt hat. Wer an der Küste keine Angst vor Luftangriffen haben musste oder in den kurdischen Gebieten im Nordosten relativ sicher war, denkt anders als die Bewohner von Ost-Ghouta oder Ost-Aleppo, die über Jahre vom Regime bekämpft wurden.

Wer in oppositionellen Orten Freiheit und Selbstorganisation kennengelernt hat, hat andere Ansprüche als die Menschen, die vier Jahre unter dem sogenannten "Islamischen Staat" (IS) gelitten haben und dann von den USA bombardiert wurden.

Flucht in einfache Erklärungen

Daneben gibt es im Syrien-Konflikt Einschätzungen sogenannter Experten. Auch sie sind nicht mit der Wahrheit zu verwechseln, sondern stehen grundsätzlich zur Debatte. Im Optimalfall kennt ein Experte das Land persönlich, beherrscht die Sprache, liest viele unterschiedliche Quellen und folgt bei seinen Recherchen journalistischen Prinzipien.

Nur dann kann er puzzeln. Also die Tausenden von Informationen, Meinungen, Videos und Nachrichten, die im Internet zu Syrien kursieren, einschätzen, in ihren Kontext setzen und verständlich machen.

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