Was die arabische Welt von Indonesien lernen kann

Seit 1945 stützt sich die Indonesien auf die Staatsphilosphie "Pancasila", die unter anderem für religiöse Toleranz und Gerechtigkeit steht. Nach dem Scheitern der Arabellion könnte sie eine Vorbildfunktion für einen demokratischen Neubeginn in vielen arabischen Staaten einnehmen, meint Abhishek Mohanty.

Essay von Abhishek Mohanty

In der heutigen Zeit bemühen sich die Länder mit arabischer Mehrheitsbevölkerung darum, die Verbindungen zwischen Staat, Religion und Zivilgesellschaft zu festigen. Seitdem 2011 im Nahen Osten der sogenannte Arabische Frühling begann, stellt dies für die Herrscher in der Region das wohl wichtigste Ziel dar. Als Folge der Arabellion haben sich die politischen Szenarien in der arabischen Welt mittlerweile verändert. Die diktatorischen Regimes erhielten eine klare Botschaft: Wenn Ihr an der Macht bleiben wollt, müsst Ihr einen Mittelweg finden und Eure Politik so gestalten, dass sie allen zugute kommt.

Indonesien – ein riesiges Land aus Inselgruppen in Südostasien – hat weltweit die viertgrößte Bevölkerung und ist die größte Nation mit muslimischer Mehrheit. Doch viele wissen nicht, dass der Islam, obwohl im Land überwiegend Muslime leben, in Indonesien keine Staatsreligion ist. Es mag unglaublich klingen, aber dort sind offiziell fünf Religionen anerkannt: der Islam, das Christentum (römisch-katholischer und protestantischer Glaubensausrichtung), der Hinduismus, der Buddhismus und der Konfuzianismus. Seit der Unabhängigkeit von den Niederlanden im Jahr 1945 hat sich Indonesien zu einer Demokratie entwickelt, die durch kulturelle Vielfalt und eine vernünftige Auslegung des Islam geprägt ist.

Um ihre autoritären Regimes zu rechtfertigen, behaupten Machtpolitiker im arabischen Raum zumeist, ihre Regierungstradition sei vom Propheten Mohammed selbst legitimiert worden. Sie bestehen darauf, die Vermischung von Religion und Staat sei untrennbar und dürfe nicht hinterfragt werden.

Für ein friedliches Zusammenleben: die "Pancasila"

Die meisten Länder der arabischen Welt haben den Islam zur Staatsreligion erklärt und ihre Verfassung am Koran ausgerichtet. Indonesien hingegen beruht auf dem politischen Grundsatz der sogenannten "Pancasila", welche die säkularen, demokratischen und nationalistischen Prinzipien betont.

Indonesische Frauen beten in einer Moschee; Foto: Getty Images
Indonesiens Konzept der Vielfalt in der Einheit für die arabsiche Welt: "Die indonesische Version des Islam wird allgemein für ihren lebendigen rationalen Diskurs geschätzt. Sie ist bemerkenswert offen für alternative Meinungen und religiöse Vielfalt. Wollen die Reformer der arabischen Welt ihre Länder positiv und nachhaltig verändern, sollten sie auf Indonesien blicken und etwas von dem übernehmen, das sich dort bereits seit langer Zeit bewährt hat", schreibt Abhishek Mohanty.

Wie kann es sein, dass die "Pancasila" als nationalistische Ideologie eine integrierende Wirkung auf die Gesellschaft hat? Tatsächlich sind die fünf Grundsätze der indonesischen Politik weit entfernt vom arabischen Nationalismus. Während Letzterer auf einer gemeinsamen ethnischen Zugehörigkeit, Sprache und Kultur beruht, stellt der indonesische Nationalismus genau das Gegenteil dar: Er ist multiethnisch, multikulturell und mehrsprachig, und kann daher als progressiv bezeichnet werden. Die "Pancasila" beruht auf folgenden Prinzipien:

Erstens dem Glauben an einen einzigen und alleinigen Gott (laut Artikel 29 der indonesischen Verfassung nimmt kein bestimmter Gott und keine bestimmte Religion einen übergeordneten Status ein).

Zweitens einer gerechten und zivilisierten Menschheit (mit kultureller und religiöser Freiheit sowie gegenseitigem Respekt).

Drittens einem vereinigten (multiethnischen, multikulturellen und mehrsprachigen) Indonesien,

Viertens dem Prinzip der Demokratie unter der weisen Führung von Volksvertretern (Indonesien ist demokratisch, während in den dünn besiedelten Golfstaaten immer noch religiöse Autokratien herrschen),

Fünftens sozialer Gerechtigkeit für alle Indonesier (unabhängig von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit).

Apostasie, Blasphemie und soziale Ausgrenzung

Die konservativen islamischen Regeln der arabischen Welt verbieten es nichtmuslimischen Männern, muslimische Frauen zu heiraten. Um dies zu tun, müssen sie vorher zum Islam konvertieren. Und will jemand dem Islam entsagen und einen anderen Glauben annehmen, wird er als abtrünnig betrachtet. Die betreffende Person wird sozial ausgegrenzt oder sogar hart bestraft. Andere religiöse Praktiken offen auszuüben, wird als Blasphemie betrachtet, und selbst jegliche konstruktive Kritik am Islam gilt bereits als eine Bedrohung des Staates und der Religion.

Indonesiens früherer Präsident Abdurrahman Wahid; Foto: picture-alliance/dpa/AFP
Führende Persönlichkeit für den demokratischen Wandel Indonesiens: Abdurrahman Wahid, genannt Gus Dur, war der erste demokratisch gewählte Präsident nach dem Ende der Suharto-Diktatur. Er kämpfte für den interreligiösen Dialog und einen friedlichen Islam. Schon früh forderte er von den Ulamas, sich für eine "soziale und kulturelle Transformation der Gesellschaft" zu engagieren. Abdurrahman Wahid starb im Dezember 2009.

In Indonesien ist dies anders: Wollen dort Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften heiraten, muss einer der Partner zu einer der sechs anerkannten religiösen Glaubensrichtungen konvertieren. Muslimische Männer oder Frauen können die Religion ihrer Ehepartner annehmen, ohne gegen ein Gesetz zu verstoßen, da in Indonesien keine speziellen Gesetze gegen Abtrünnigkeit existieren.

Zwar gibt es ein Blasphemiegesetz, aber es unterscheidet sich doch recht deutlich von der arabischen Version. Laut Artikel 156(a) des indonesischen Strafgesetzbuchs werden öffentliche Äußerungen oder Handlungen mit Gefängnis von bis zu fünf Jahren bestraft, die die Eigenschaft haben, "einer in Indonesien befolgten Religion feindlich gesinnt zu sein, sie zu beschimpfen oder zu verleumden", oder den Zweck haben, "eine Person an der Ausübung einer Religion zu hindern, die auf dem Glauben an den allmächtigen Gott beruht".

Also stehen in Indonesien einerseits alle Religionen unter Schutz, aber andererseits wird die Verbreitung des Atheismus bestraft – eine Entwicklung, die sich zukünftig noch ändern könnte.

Indonesiens progressive islamische Denker

Indonesien hat einige außergewöhnlich progressive muslimische Denker und Aktivisten hervorgebracht. Dabei handelt es sich um so unterschiedliche Männer wie Tan Malaka, Haji Misbach, Tjokroaminoto, Agus Salim, Mohamad Natsir, Kartosuwiryo, Nurcholish Madjid, Dawam Rahardjo, Kuntowijoyo und Abdurrahman Wahid.

Bisher wurde kaum eine ihrer Schriften ins Arabische oder Englische übersetzt. Daher konnten ihre bereichernden philosophischen Ansätze in anderen Teilen der Welt nie ihre Wirkung entfalten. Doch würde man diese Schriften der arabischen Welt zugänglich machen, hätte dies zweifelsohne einen überaus positiven Effekt auf die Bevölkerungen und politischen Systeme.

In allen Ländern des Nahen Ostens haben islamistische Gruppen an Einfluss gewonnen, da sie als Garanten des Widerstands gegen diktatorische Regimes betrachtet und als "aufrecht bzw. authentisch" und als "unverdorben" gesehen wurden. In Indonesien hingegen sind die religiösen Vereinigungen durch progressive Intellektuelle geprägt, die  Religion und Demokratie für durchaus miteinander vereinbar halten.

Da diese öffentlichen Intellektuellen mit religiösen Massenbewegungen in Verbindung stehen, leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung der Inselrepublik. Sie nehmen an der politischen Gesellschaft teil und tragen damit dazu bei, die Demokratie zu legitimieren und demokratiefreundliche Koalitionen in Indonesien zu fördern.

Studierende an der Universität Depok, West-Java; Foto: imago/Xinhua
Progressives und beispielhaftes Bildungssystem: "Indonesien war schon immer säkular und fortschrittlich in Hinblick auf Erziehung und Wissenschaften eingestellt. Die muslimischen Schulen und Universitäten des Landes verwenden den Islam zwar als Grundlage, doch meist in Verbindung mit progressivem Nationalismus."

Auch was die Bildung seiner Bürger angeht, war Indonesien immer schon säkular und progressiv eingestellt. Die muslimischen Schulen des Landes beispielsweise verwenden den Islam zwar als Grundlage, doch meist in Verbindung mit progressivem Nationalismus. Weiterhin ist der indonesische Islam für seine synkretisch-okkulten Rituale bekannt, die aus der hinduistischen Tradition Javas stammen. Auch heute gibt es immer noch eindrucksvolle Hindu-Rituale, die sich mit islamischen Sitten und Praktiken vermischt haben.

Toleranz und Offenheit für alternative Positionen

Die indonesische Version des Islam wird allgemein für ihren lebendigen rationalen Diskurs geschätzt. Sie ist bemerkenswert offen für alternative Meinungen und religiöse Vielfalt. Liberale und reformorientierte Trends, wie etwa die muslimisch-feministischen Bewegungen des Landes, sind äußerst aktiv und bis heute im ganzen Land weit verbreitet. In den säkularen Teilen der arabischen Welt sind sie dafür bekannt, dass sie eine machtvolle Allianz diverser Frauengruppen und einzelner Aktiver hervorgebracht haben, die eine Vielzahl von Frauenthemen von der Basis bis auf die legislative Ebene einbringen. In der arabischen Welt hingegen besteht die überwiegende Mehrheit der muslimisch-feministischen Bewegungen aus Angehörigen der Upper-Class und der politischen Eliten.

Letztlich verändert sich alles: die Zeiten und Umstände, die politischen Philosophien, die Strukturen der wirtschaftlichen Eliten, die Muster der Beziehungen zwischen Militär und Zivilgesellschaft und die entsprechenden Positionen innerhalb des internationalen Systems von Macht und Autorität. Manches davon wandelt sich langsam, anderes schneller. Wollen die Reformer der arabischen Welt ihre Länder positiv und nachhaltig verändern, sollten sie auf Indonesien blicken und etwas von dem übernehmen, das sich dort bereits seit langer Zeit bewährt hat.

Abhishek Mohanty

© Mashreq Politics & Culture Journal (MPC) 2018

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff