"Wir müssen uns den Arabischen Frühling zurückholen!"

Als erste arabische Frau wurde Tawakkul Karman 2011 mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Im Gespräch mit Nader Alsarras erklärt die 39-Jährige, warum der Arabische Frühling gescheitert ist und der Jemen in Krieg und Chaos versinkt.

Von Nader Alsarras

Heute, sieben Jahre nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings, befindet sich der Jemen in einer katastrophalen Situation. Wie kommt das Land wieder aus dem kriegerischen Konflikt heraus?

Tawakkul Karman: Es findet zurzeit ein erbitterter Kampf zwischen den revolutionären Kräften des Arabischen Frühlings und den Mächten der Gegenrevolution statt. Diese haben nun ihr hässliches Gesicht gezeigt. Es ist ein Kampf, der zu noch mehr Kriegen und Instabilität führt. Und das alles ist eine Verschwörung, geleitet von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Sie führen diese Konterrevolution. Denn Riad, Abu Dhabi und auch Teheran nahmen den Arabischen Frühling als direkte Bedrohung ihrer Interessen wahr. Sie versuchten daher, mit ihrem Geld Putsche, Kriege und Chaos in den arabischen Hauptstädten anzuzetteln - in Kairo, Tripolis, Damaskus und auch in Sanaa.

Die arabischen Völker ringen gegenwärtig damit, aus dieser düsteren Situation herauszukommen. Wir werden weder aufgeben noch auf Demokratie, Freiheit und Menschenrechte verzichten. Wir werden eine Rückkehr zur Diktatur, Unterdrückung und Korruption nicht akzeptieren. Unsere Völker werden eines Tages Demokratie und Freiheit erleben. Das ist sicher.

Sie äußern harsche Kritik an Saudi-Arabien und den Emiraten. Warum jetzt erst?

Karman: Nein, das tue ich nicht erst seit heute. Ich habe seit dem Anfang der Militäraktion, die die Saudis und Emiratis im Jemen gegen die Huthis führen, die Bombardierung der Zivilisten verurteilt und zur Einhaltung der Menschenrechte aufgerufen. In jüngster Zeit habe ich meine Kritik weiter verstärkt, weil die Koalition ihre Aggression intensiviert hat, und weil uns klar geworden ist, dass Saudi-Arabien und die VAE eine zweifelhafte Rolle spielen. Sie sagten, sie seien in den Jemen gekommen, um die legitime Regierung gegen die Huthi-Putschisten und den Despoten Ali Abdullah Salih zu verteidigen.

Jemens Langzeitdiktator Ali Abdullah Salih; Foto:picture-alliance/AP
Jemens Langzeitdiktator zwischen die Fronten geraten: Tawakkul Karman hatte nach dem Tod Ali Abdullah Salihs getwittert, Salih habe ein "tragisches Ende" genommen, das "wir ihm bei der friedlichen Revolution so niemals gewünscht hatten, aber 'Du erntest, was du säst'".

Doch was sie tatsächlich machen, ist, die legitime Regierung zu zerschlagen. Sie hindern den Präsidenten Abd Rabbu Mansour Hadi daran, ins Land zurückzukehren. Sie unterstützen bewaffnete Gruppen, die Einheit und Sicherheit des Landes gefährden, wie es zum Beispiel in Aden im Januar der Fall war. Sie errichten geheime, illegale Gefängnisse im Land.

Die VAE haben mehrmals die Präsidentengarde bombardiert, sie besetzen außerdem jemenitische Inseln, Häfen und Flughäfen und lehnen eine Rückgabe an die legitime Hadi-Regierung ab. Alle Gebiete, die nicht zurückgegeben werden, sind für mich besetzte Gebiete. Das alles geschieht neben der willkürlichen Bombardierung und Zerstörung der Infrastruktur und der Belagerung und dem Aushungern der Zivilisten.

Ihnen wird vorgeworfen, dass Sie anfangs die von den Saudis geführte Koalition befürwortet hätten. Nun kritisieren Sie sie.

Karman: Das ist nicht richtig. Die Koalition habe ich nie öffentlich unterstützt. Ich habe die Verbrechen sofort angeprangert, vor allem wenn es um die Bombardierung und Belagerung des jemenitischen Volkes ging. Ich habe immer dazu aufgerufen, das internationale Recht zu achten und Zivilisten die Schrecken des Krieges zu ersparen. Gleichzeitig kritisiere ich den Putsch der Huthi-Miliz und des gestürzten Präsidenten Salih, der vom Iran unterstützt wurde. Sie haben auch viele Verbrechen am Volk begangen und sind die Hauptursache für diesen Krieg und diese Zerstörung. Im Übrigen haben viele Jemeniten am Anfang keinerlei Probleme mit der Koalition gehabt, weil sie ihnen versprochen hatte, der legitimen Regierung bei der Zerschlagung der Huthi-Miliz und deren Verbündeten helfen zu wollen. Doch mit der Zeit wurde klar, dass die von Saudi-Arabien geführte Koalition lügt und betrügt und ganz andere, nämlich eigene Ziele verfolgt, die nichts mit Hilfe zu tun haben.

Ihre Kritik an Saudi-Arabien und die VAE hat die "Jemenitische Versammlung für Reform", die "Al-Islah"-Partei, dazu veranlasst, Ihre Parteimitgliedschaft einzufrieren. Warum hat sie das gemacht? Sie sind ja nicht die Einzige in der Partei, die die Koalition kritisiert.

Karman: Die politische Führung des Landes, allen voran die "Al-Islah"-Partei, aber auch der Präsident, sind Geiseln und Gefangene Saudi-Arabiens. Sie werden politisch und moralisch erpresst. Alles, was sie sagen, wird ihnen von den Saudis und den Emiratis diktiert. Doch die "Al-Islah"-Partei ist keine Privatfirma des saudischen Kronprinzen Mohammad bin Salman. Er kann nicht einfach die Parteiführung inhaftieren, wie er das mit den Prinzen, die mit ihm verwandt sind, also seinen eigenen Cousins, getan hat.

Huthi-Rebell nach einem Luftangriff der saudischen Militärallianz auf den Präsidentenpalast in Sanaa; Foto: Getty Images/AFP
Mit Bomben und Raketen gegen Jemens Huthi-Milizen: Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sind die beiden wichtigsten Mitglieder einer Militärkoalition, die Jemens Präsidenten Abd Rabbu Mansour Hadi in dem seit Jahren andauernden blutigen Krieg gegen schiitische Huthi-Rebellen unterstützt.

Ich möchte hier betonen, dass ich eine Menschenrechtsaktivisten bin, ich bin Teil der friedlichen Revolution – und genau das ist meine wirkliche Partei! Meine Beziehung zur "Al-Islah"-Partei und den anderen jemenitischen Parteien ist von gegenseitigem Respekt geprägt.

Die Frauen nahmen vor sieben Jahren von Anfang an aktiv teil an der Revolution im Jemen. Sie waren damals auch dabei. In welcher Situation befinden sich heute die Frauen im Jemen?

Karman: Die Frauen im Jemen kämpfen heute immer noch gegen die Ungerechtigkeit, trotz der schwierigen Situation im Land. In allen Teilen des Jemen gibt es Fraueninitiativen, um die Leiden zu lindern und den Geflüchteten und armen Familien zu helfen. Trotz alldem sind viele Frauen im Jemen sehr stark und führen den Kampf gegen die Putschisten und die Besatzer gleichzeitig. Das beruhigt mich. Aber auf der anderen Seite leidet das ganze Volk, vor allem Frauen und Kinder, unter den Schrecken des Krieges. Wir stehen vor einer Katastrophe gewaltigen Ausmaßes.

Seit einigen Jahren gibt es Bestrebungen in arabischen Ländern wie Saudi-Arabien oder Tunesien, die Frauenrechte zu stärken. Trotzdem haben Frauen in den meisten arabischen Ländern sehr wenig politischen Einfluss. Wird es nicht langsam Zeit für eine Frauenrevolution in der arabischen Welt?

Karman: Nein. Wir brauchen keine Frauenrevolution, damit Frauen ihre Rechte bekommen. Wir müssen uns den Arabischen Frühling zurückholen. Wenn die Völker sich von Diktaturen befreien, bekommen Frauen ihre Rechte, bekommen Männer auch ihre Rechte, jedes Individuum bekommt seine Rechte. Ich bin keine Anhängerin der Trennung von Männer- und Frauenrechten. Alle Menschen müssen ihre Rechte bekommen können. Wir sollten nicht in diesen Kategorien denken. Denn nur so können wir Erfolg haben.

Das Gespräch führte Nader Alsarras.

© Deutsche Welle 2018

Die jemenitische Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul Karman ist Journalistin und Menschenrechtsaktivistin und Mitglied der jemenitischen Oppositionspartei "Al-Islah".