Der selektive Blick auf Syrien

Der syrische Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh gilt als Revolutionär der ersten Stunde in seiner Heimat. Bis heute zählt er zu den schärfsten Kritikern all jener politischen Beobachter und Experten, die den Erhalt des Assad-Regime als "alternativlos" oder kleineres Übel schönreden wollen. Emran Feroz hat sich mit ihm unterhalten.

Von Emran Feroz

Sie befanden sich 16 Jahre lang in der Gefangenschaft des Assad-Regimes. Der Grund für die Verhaftung war Ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Syriens. Können Sie kurz erläutern, was Ihnen damals passiert ist?

Yassin al-Haj Saleh: In diesem Zusammenhang muss man den historischen Hintergrund des Kommunismus in Syrien berücksichtigen. Aufgrund der Abhängigkeit von der Sowjetunion und der verschiedenen Haltungen zu syrischen und arabischen Themen war die Syrische Kommunistische Partei (SCP) bereits seit 1972 gespalten. Ein weiteres wichtiges Thema damals war die Befreiung Palästinas sowie die arabische Vereinigung im Allgemeinen. Später nahm die Haltung der Partei zum Assad-Regime eine immer wichtigere Rolle ein. Es bildeten sich zwei Fraktionen heraus: Während die eine ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion beteuerte und eine kompromisslose Haltung gegenüber Israel einnahm, war die andere der Sowjetunion ergeben und verbündete sich mit dem Assad-Regime. Ich hatte mich damals der ersten Fraktion angeschlossen.

Als ich verhaftet wurde, war ich Medizinstudent und sehr aktiv an den politischen Debatten an der Universität Aleppo beteiligt. Man nahm uns fest und zerschlug die Partei, weil wir uns offen gegen das Regime gestellt hatten, nicht weil wir Kommunisten waren. Denn das Regime profitierte ja von Menschen mit verschiedenen ideologischen Hintergründen – von Kommunisten, Islamisten oder auch arabischen und kurdischen Nationalisten, solange diese sich gehorsam gegenüber dem Regime zeigten. Aber sobald sie diese Linie überschritten, fielen sie in Ungnade und wurden ausgelöscht.

Der oberste Anspruch des Regimes von Hafiz al-Assad war es, die absolute Macht über die Bevölkerung Syriens und der umliegenden Regionen im Libanon und Palästina aufrechtzuerhalten. Das schlimmste Verbrechen war es, sich gegen dieses Regime der politischen Sklaverei zu wehren. Ich war einer dieser vielen rebellierenden Sklaven. Dennoch hätte ich es nicht für möglich gehalten, dafür 16 Jahre lang im Gefängnis zu landen. Ein Jahr davon verbrachte ich im berüchtigten Foltergefängnis in Tadmur, das weltweit den schlimmsten Platz der beiden vergangenen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einnahm.

Überrascht es Sie nicht – vor allem in Anbetracht, was Ihnen widerfahren ist – dass viele Menschen, speziell im Westen, das Assad-Regime und dessen Säkularismus sowie Minderheitenpolitik verteidigen?

Al-Haj Saleh: Baschar al-Assads Regime ist keineswegs säkular, sondern sektiererisch. Sobald es um Staaten mit muslimischer Mehrheit geht, tendieren viele Menschen dazu, das zu adaptieren, was ich auch als "Huntington'schen Säkularismus" bezeichne. Säkularismus wird dabei vereinfacht und kulturalistisch begriffen – als etwas, das sich prinzipiell gegen den Islam richtet.

Viele Menschen im Westen wissen einfach nichts über Syrien. Ein Großteil der medialen Berichterstattung ist geprägt von Vereinfachungen – da zeigt man beispielsweise Baschar al-Assad in seinen teuren Anzügen und seine reiche und elegante Ehefrau. Gleichzeitig werden Anspielungen auf seine alawitische Minderheit gemacht, was wiederum bedeutet, dass er nicht der sunnitischen Mehrheit, vor der ja die Minderheiten beschützt werden müssen, angehört. Diese Berichterstattung ist durchtränkt von islamophoben Positionen.

Diese selektive Wahrnehmung erleichtert es, sich mit einem skrupellosen Regime zu identifizieren, anstatt mit jenen, die jahrzehntelang unsichtbar geblieben sind und sich gegen diese Diktatur zur Wehr gesetzt haben. Die Rhetorik vom angeblichen "Minderheitenschutz" ist tief mit dem Erbe der westlichen Kolonialmächte, ihren Diskursen und Praktiken verbunden. Folgt man dieser kolonialen Logik so waren die Minderheiten des Nahen Ostens schon immer bedroht von einer muslimischen Mehrheit, weshalb die "zivilisierten", westlichen Mächte diese schützen müssen.

Vor allem bei Teilen der westeuropäischen Linken findet das Assad-Regime angesichts der dschihadistischen Gefahr regen Zuspruch. Was halten Sie von den Positionen der politischen Linken im Umgang mit dem Assad-Regime?

Al-Haj Saleh: Ich fand es schockierend, dass sich Teile der westlichen Linken auf die Seite eines brutalen, korrupten und sektiererischen Regimes geschlagen hat – eine Diktatur, die seit einem halben Jahrhundert auf der Gründung einer räuberischen Gesellschaftsklasse beruht, die seit jeher die verarmten und schutzlosen Syrer ausbeutet und jegliche öffentliche Ressourcen regelrecht ausdrückt, während sie ihre eigenen Milliarden in ausländische Bankkonten bunkert. Viele Linke im Westen wissen, dass Hafiz al-Assad Syrien 30 Jahre lang regiert hat. Sie wissen, dass er Syrien in eine Dynastie transformiert hat, die nur aus der Familie Assad besteht. Diese Linken wissen auch, dass dies einen großen Bruch in der Grundidee der Republik darstellt. Wieso haben sie nie ein Wort darüber verloren?

in Problem in diesem Zusammenhang ist, dass all jene, die sich als "Anti-Imperialisten" definieren, dazu tendieren, unseren Kampf als "Regime Change" im US-amerikanischen Sinn begreifen, der ihnen natürlich zuwider ist. Dabei ignorieren sie die gesamte Geschichte Syriens, der Gesellschaft, dem politischen Leben und der Wirtschaft. Gleichzeitig fühlen sie sich ermutigt, alle Geschehnisse in Syrien in anti-imperialistischen Kategorien zu deuten. Dabei blenden sie bewusst aus, dass der "Regime Change" in Syrien im Jahr 2011 unsere eigene Initiative als Syrer war! Wir selbst waren es, die das barbarische Regime stürzen wollten.

Syriens Diktator Hafiz al-Assad; Foto: AP
Wie der Vater, so der Sohn: Die Stadt Hama im Nordwesten Syriens war im Februar 1982 Schauplatz eines mehrwöchigen Massakers gewesen. Ein Großteil der Stadt wurde auf Geheiß des damaligen Machthabers Hafiz al-Assad zerstört, Zehntausende Menschen wurden getötet, inhaftiert oder gelten bis heute als vermisst.

Im vergangenen Dezember wurde Aleppo von den Truppen Regimes wieder eingenommen. Die Narrativen zur Eroberung der Stadt sind sehr unterschiedlich. Die eine Seite spricht von Genozid und Massenmord, der auf das Konto des Assad-Regimes und seiner Verbündeten geht. Die Gegenseite behauptet, man habe die Stadt von "Terroristen" befreit. Welche Seite steht Ihrer Meinung nach auf der richtigen Seite der Geschichte?

Al-Haj Saleh: Ich denke, es ist furchtbar diesen Ausdruck "die richtige Seite der Geschichte" zu benutzen. Wer sind jene Engel, die über die Geschichte wachen und dazu in der Lage sind zu sagen, welche Seite richtig oder falsch ist? Genozid ist ein starker Begriff, der achtsam gewählt werden sollte. Es ist wohl angemessener ihn zu verwenden, um den gesamten Verlauf der fortwährenden und systematischen Folter, Tötung, Bombardierung und Vertreibung der vergangenen sechs Jahre zu beschreiben. Jene, die aus Aleppovertrieben wurden, waren überwiegend Einheimische, während jene, die die Stadt einnahmen, Fremde gewesen sind, bestehend aus der Armee des Regimes und ausländischen, schiitischen Milizen aus dem Libanon, Irak, Pakistan oder Afghanistan. Letztendlich wurde ihnen all das dank des russischen Flächenbombardements möglich gemacht. Es ist schlichtweg eine Wiederbesatzung, die wir in Aleppo erlebt haben.

Kann man davon ausgehen, dass die extremistischen Gruppierungen den Aufstand inzwischen komplett dominieren? Und falls dies der Fall ist, wie kam es dazu?

Al-Haj Saleh: Diese Entwicklung hat sich im Laufe der Jahre bewahrheitet. Die Revolution hatte ja mit friedlichen Demonstrationen begonnen, die monatelang fortgeführt wurden und von Anfang an der brutalen Gewalt des Regimes ausgesetzt waren. Im September 2011, ungefähr sechs Monate nach Beginn der Revolution, verlangten die syrischen Demonstranten internationalen Schutz. Viele Syrer gingen damals noch davon aus, dass die Welt sie nicht im Stich lässt und dem Tod überlässt, wie es bereits 1982 in Hama unter Hafiz al-Assad der Fall war. Ein Grund für diese Annahme war jene Rhetorik von Demokratie und Freiheit, die etwa 1998 in Ex-Jugoslawien, 2003 im Irak und 2011 in Libyen präsent war.

Doch der Schutz der internationalen Staatengemeinschaft blieb aus. Die Folge war, dass der bewaffnete Widerstand zunahm und wehrlose Zivilisten, die ihr Vertrauen in die internationale Gemeinschaft verloren hatten, sich fortan auf ihre Waffen verließen. Daraufhin setzte eine Dynamik aus Radikalisierung, Militarisierung und Islamisierung ein. Es war vorhersehbar, dass Menschen, die bis zu dem Zeitpunkt keine Extremisten waren, sich radikalisieren würden. Viele Menschen, die keine frommen Muslime gewesen sind, entwickelten sich plötzlich zu Islamisten. Zeitgleich dürfen wir einen externen Faktor nicht vergessen: die vielen Petrodollars aus Staaten wie Saudi-Arabien und Qatar sowie die salafistischen Netzwerke in der Golfregion. Die gegenwärtige Situation in Syrien ist der ideale Nährboden für das Aufblühen salafistischer Dschihadisten.

Das Gespräch führte Emran Feroz.

© Qantara.de 2017

Yassin al-Haj Saleh ist ein bekannter oppositioneller Autor aus Syrien, der unter Hafiz al-Assad 16 Jahre im Gefängnis zubringen musste. Er gilt für viele als das "Gewissen der syrischen Revolution". Zu seinen Büchern gehört: "Syrien im Schatten: Ansichten in der Blackbox".