Die Radikalisierung der Vorstädte

Der iranisch-französische Soziologe Farhad Khosrokhavar erforscht, warum sich Menschen radikalisieren und welche Faktoren sie in den Dschihad treiben. Im Gespräch mit Claudia Mende erklärt er, warum die Problemviertel der Städte Brennpunkte der Radikalisierung sind und wie Europa auf die Gefahr des Terrors reagieren muss.

Von Claudia Mende

Herr Khosrokhavar, vor zwei Wochen hat es in Paris wieder eine islamistisch motivierte Messerattacke gegeben. Welche Art der Radikalisierung lassen sich bei dem Täter entdecken?

Farhad Khosrokhavar: Wir haben es jetzt mit den Attacken Einzelner zu tun, bei denen kaum andere Personen direkt mit involviert sind. Wenn Sie so wollen, handelt es sich bei diesen Attacken mit Messern oder Autos um eine Art Rache für den Kampf des Westens gegen den IS in Syrien. Diese Attacken sind stärker limitiert als diejenigen vom Typus der Anschläge in Paris vom 13. November 2015 mit 130 Toten.

Handelt es sich auch bei diesem Attentäter um einen jungen Mann mit Migrationshintergrund aus einer benachteiligten Banlieue, einem verarmten Randbezirk einer französischen Großstadt?

Khosrokhavar: Man kennt die Hintergründe bei diesem Attentäter noch zu wenig, aber er war tschetschenischer Herkunft und erhielt die französische Staatsbürgerschaft im Jahr 2010. Er gehört zu den jungen Personen mit Migrationshintergrund und lebte in Straßburg-Elsau, einem sozialen Brennpunktviertel. Bei den Tätern handelt es sich häufig um solche jungen Männer aus Migrantenfamilien in abgehängten Stadtvierteln. Sie fühlen sich abgelehnt und stigmatisiert, haben meist die Schule ohne Abschluss verlassen und sehen keinerlei berufliche Zukunft. Häufig sind sie arbeitslos oder haben nur prekäre Jobs. Diese Stadtviertel sind zu Brennpunkten der Radikalisierung geworden. Man findet sie in allen europäischen Großstädten, nicht nur in Frankreich.

Neben den Radikalisierten aus benachteiligten Schichten gibt es aber auch Täter aus Mittelschichtfamilien. Handelt es sich hierbei um Einzelfälle?

Farhard Khosrokhavars Sachbuch "Radikalisierung"; Quelle: Europäische Verlagsanstalt
Urbane Strukturen können Dschihadismus erzeugen: "Wir haben immer mehr Problemviertel in den Großstädten, in denen Zugewanderte ohne jede Perspektive leben. Man muss versuchen, diesen jungen Zuwanderern die gleiche Chance auf Teilhabe zu bieten. Soziologische Arbeiten zeigen, dass jemand mit dem Namen Mohammed in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien nicht die gleichen Chancen hat wie ein Mensch, der Robert heißt", sagt Farhard Khosrokhavar.

Khosrokhavar: Einzelfälle nicht, aber sie bilden eine Minderheit. Ein Viertel bis maximal ein Drittel der Attentäter kommt aus der Mittelschicht, wobei es keine genauen Statistiken gibt. Mehrheitlich haben wir es bei den Tätern mit jungen Menschen aus benachteiligten Schichten zu tun, deren Familien zugewandert sind und deren Leben sich in den trostlosen Vorstädten abspielt.

Gibt es auch gemeinsame Merkmale dieser beiden Gruppen?

Khosrokhavar: Sozial gesehen nicht, aber die Identifikation mit dem radikalen Islam verbindet beide. Bei den Benachteiligten ist es vor allem der Hass auf die Gesellschaft, das Gefühl abgelehnt, d.h. Bürger zweiter Klasse zu sein, was sie schließlich in den Dschihadismus treibt. Fast überall in Europa hat man negative Bezeichnungen für diese Migranten. In Frankreich nennt man sie "Francais sur les papiers" (Franzosen auf dem Papier), in Deutschland "Passdeutsche" in Großbritannien "Pakis". Diese Dimension ist sehr wichtig zum Verständnis von Radikalisierung.

Und bei den Tätern aus der Mittelschicht?

Khosrokhavar: Bei ihnen spielt der Hass auf die Gesellschaft zunächst keine Rolle. Hier steht eher die Unsicherheit gegenüber dem Leben im Vordergrund. Auffällig ist bei diesen jungen Menschen das Fehlen jeglicher humaner Utopie. Aus diesem Mangel heraus kann die dschihadistische Utopie eine enorme Anziehungskraft entwickeln. Die Täter aus der Mittelschicht haben aber keine kriminelle Vergangenheit und leben auch nicht in Problemvierteln. Sie fühlen sich nicht ausgegrenzt, sie haben also ganz andere psychologische Voraussetzungen.

Haben Sie eine Erklärung für die Häufung der Anschläge in Frankreich?

Khosrokhavar: Zunächst einmal gibt es in Frankreich mit rund fünf Millionen Muslimen die größte islamische Gemeinschaft Europas. In Deutschland und Großbritannien leben jeweils rund drei Millionen Bürger islamischen Glaubens. Die französische muslimische Gemeinschaft setzt sich aber auch anders zusammen. Während in Deutschland überwiegend Muslime türkischer Herkunft leben, kommen die französischen Muslime ursprünglich zumeist aus Nordafrika. Hier spielt die koloniale Vergangenheit Frankreichs eine Rolle, genauso wie eine besonders strikte Version des Laizismus. Das Verbot von Kopftüchern in der Verwaltung und öffentlichen Schulen oder das Verbot muslimischer Sportkleidung im Namen der Laicité führen zu mehr Spannungen, während man in Deutschland oder Großbritannien etwa Kopftücher auch nicht liebt, aber viel eher toleriert als in Frankreich.

Welche Rolle spielt die koloniale Vergangenheit?

Khosrokhavar: Anders als Frankreich mit Nordafrika hat Deutschland keine koloniale Vergangenheit in Hinblick auf die Türkei. Die türkischen Muslime haben starke Bindungen untereinander, die Arbeit für Familie und für die Gemeinschaft erfährt eine starke Wertschätzung, was in der Form unter Algeriern und Marokkanern in Frankreich nicht der Fall ist. Algerier und Marokkaner bringen ganz andere Belastungen mit.Im Falle Algeriens ist das der Bürgerkrieg zwischen Militär und radikalen Islamisten von 1991 bis 2002/03 mit 200.000 Toten. Bei den Marokkanern sind es vor allem die Berber, die auffällig werden. Sie werden von allen Seiten abgelehnt und schlecht behandelt. Ein Großteil der marokkanischen Dschihadisten sind Berber. Sie haben mit großen Identitätsproblemen zu kämpfen, denn sie sind weder Franzosen noch Araber. Diese Belastungen führen dazu, dass es in Frankreich mehr Anschläge gibt als in anderen europäischen Ländern.

Sie sprechen von den Tätern als "wiedergeborene Muslime", die aus ursprünglich de-islamisierten Familien kommen und dann die Religion in einer radikalen Form wiederentdecken. Welche Rolle spielt der Islam bei der Radikalisierung?

Khosrokhavar: Das ist je nach Land unterschiedlich. In Frankreich ist es tatsächlich eine junge Generation, die den Bezug zum Islam verloren hatte und jetzt meint, im Dschihad eine neue Identität zu finden. Damit wollen sie die Rolle umkehren, die man ihnen auferlegt hat. Das heißt, sie verwandeln ihre Unterlegenheit in eine Überlegenheit, indem sie zu Dschihadisten werden. Häufig sind diese Täter zunächst als Kleinkriminelle zu Haftstrafen verurteilt worden. Im Gefängnis verurteilen sie ihrerseits die Gesellschaft zum Tode. Als Dschihadisten werden sie weltweit zu Stars. Ihr Foto geht zur Hauptsendezeit um die Welt. Es ist also diese Umwertung, die ihren Weg zum radikalen Islam beschreibt.

Frankreichs Muslime bekunden nach den Anschlägen in Paris vom 13. November 2015 ihre Ablehnung jeglicher Gewalt im namen des Islam; Foto: picture-alliance/dpa
Ablehnung von Gewalt im Namen des Islam: Bei der Anschlagsserie am 13. November 2015 waren in Paris 130 Menschen getötet worden. Später bekannte sich die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) zu den Attentaten. Zahlreiche Muslime in Frankreich distanzierten sich von der Gewalt der Dschihadisten und bekundeten ihre Anteilnahme für die Opfer der Attentate.

Gilt das auch für andere europäische Länder?

Khosrokhavar: In Großbritannien gibt es eine engere Verbindung zwischen einem traditionalistischen Islam und der Radikalisierung. In Frankreich hat der strikte Laizismus in gewisser Weise die kulturelle Kontinuität des Islam zerschnitten, das ist in Großbritannien weniger der Fall. Die türkische Gemeinschaft in Deutschland steht stark unter dem Einfluss der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Sie achtet darauf, dass die Imame sich nicht radikalisieren. Insofern handelt es sich um einen kontrollierten Islam, der nur wenig Radikalisierung zulässt.

Wenn jemand Passanten mit einem Messer angreift, gibt das normalerweise eine lokale Meldung über einen kriminellen Akt. Sobald die Tat im Namen des Islam geschieht, gehen die Bilder um die Welt. Was macht den besonderen Schrecken dieses Mordens aus?

Khosrokhavar: Das liegt daran, dass der Islam in den weitgehend säkularisierten europäischen Gesellschaften als etwas vollkommen Fremdes angesehen wird. Wenn jemand im Namen eines korsischen oder nordirischen Nationalismus tötet, dann lehnt man das natürlich ab, aber man versteht den historischen Kontext. Der Dschihad aber kommt für Europäer aus einer völlig anderen Welt. Gleichzeitig hat er eine symbolische Bedeutung, die zentral ist. Wer im Namen des Dschihad tötet, kündigt der Gesellschaft auf einer symbolischen Ebene das Zusammenleben auf.

Kehrt hier eine Gewalt zurück, die Europa für überwunden hielt?

Khosrokhavar: Ja genau, im Modell der europäischen Säkularisierung wurde Gewalt aus religiösen Gründen für überwunden gehalten. Beim Dschihad geht es um Religion, um Gott. Das sind ganze andere, für Europäer unverständliche Kategorien. Deshalb hat der Dschihadismus eine ganz andere Wirkung auf die Gesellschaft als etwa der Terror von Links oder Rechts.

Außerdem entlädt sich im Dschihadismus eine blinde Gewalt mit einer ganz anderen Brutalität als beim gewalttätige Linksextremismus der RAF oder der Roten Brigaden in Italien. Diese Gruppen waren zwar auch gewalttätig, richteten sich aber gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen wie Kapitalisten, Militärs oder Politiker, aber nicht gegen jedermann. Jihadisten aber morden wahllos. Diese Dimension ist sehr beängstigend.

Teilen Sie die Einschätzung, dass islamistischer Terror die Hauptbedrohung Europas darstellt?

Khosrokhavar: Die Bedrohung ist für mich stärker symbolischer als realer Natur, selbst wenn es in Frankreich 200 Tote in den letzten zwei Jahren gab. Unter symbolischen Aspekten ist es eine wesentliche Bedrohung, weil der islamistische Terrorismus Europa in die Hände der Rechtspopulisten treibt. Das ist die große Gefahr: ob Pegida und AfD, Front National oder die Rechtspopulisten in den Niederlanden. Auf ganz Europa bezogen sind die Zahlen der Toten nicht enorm, aber es trifft immer unschuldige Menschen, was aufs Schärfste zu verurteilen ist. Vor allem die Infragestellung der europäischen Zivilisation mit ihrer säkularen Demokratie in Kombination mit blinder Gewalt ist es, was so viel Angst erzeugt.

Wie kann Europa darauf angemessen reagieren?

Khosrokhavar: Es gibt eine kurzfristige und eine langfristige Option: Kurzfristig müssen Sicherheitsapparat und Polizei reagieren, aber langfristig müssen wir auch die soziale Dimension ins Auge fassen. Urbane Strukturen können Dschihadismus erzeugen. Wir haben immer mehr Problemviertel in den Großstädten, in denen Zugewanderte ohne jede Perspektive leben. Man muss versuchen, diesen jungen Zuwanderern die gleiche Chance auf Teilhabe zu bieten. Soziologische Arbeiten zeigen, dass jemand mit dem Namen Mohammed in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien nicht die gleichen Chancen hat wie ein Mensch, der Robert heißt.

Hinzu kommt, dass etwa ein Viertel bis ein Drittel der Muslime fundamentalistische Einstellungen haben. Das heißt nicht, dass sie Dschihadisten sind. Aber es zeigt, wieviel Arbeit noch vor uns liegt. Wir müssen stärker erklären, was es heißt, ein Bürger zu sein, was Demokratie bedeutet und gleichzeitig für echte Chancengleichheit sorgen. Nur wenn wir diese Fragen angehen, lässt sich das Problem des Terrors langfristig bewältigen. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten den Terror allein mit sicherheitspolitischen Maßnahmen bekämpfen.

Sie haben geschrieben, dass der Zerfall politischer Institutionen in diesem Zusammenhang bedenklich ist. Warum?

Khosrokhavar: Politische Institutionen geben dem Zusammenleben einen Sinn. Es gab in Europa verschiedenste Utopien für das Zusammenleben, sozialistische oder republikanische Utopien in Frankreich, feministische und nationalstaatliche Utopien, aber sie sind alle verloren gegangen. Deshalb ist die repressive Utopie des "Islamischen Staates" (IS) für manche junge Menschen attraktiv. Gesellschaften brauchen Utopien, aber sie müssen beherrschbar sein. Ob das eine Utopie der Menschenrechte ist, des Feminismus, der Ökologie oder der sozialen Gerechtigkeit: Menschen brauchen diese Vision von der Zukunft.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2018

Der französisch-iranische Soziologe Farhard Khosrokhavar ist Studienleiter an der École des hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Sein Buch "Radikalisierung" ist 2016 bei der Europäischen Verlagsanstalt erschienen.