Ein Islam für die Moderne

Vorstellungen über Apostasie oder Blasphemie als strafwürdige Verbrechen zeigen, dass islamisches Denken heute in einer politischen Theologie aus einer vormodernen Zeit gefangen ist. Das müsse durch kritisches Denken überwunden werden. Dabei sollten Muslime an ihr vielfältiges Erbe anknüpfen, meint Ebrahim Moosa im Gespräch mit Claudia Mende.

Von Claudia Mende

Professor Moosa, im Islam gelten Apostasie oder Blasphemie traditionell als Verbrechen. Wie gehen Sie als Theologe mit dieser Frage um?

Ebrahim Moosa: Wir müssen diese Frage auf zwei Ebenen angehen. Einerseits ist das, was wir als Apostasie bezeichnen, Teil einer Theologie des Imperiums. Selbst wenn man in einem nicht-muslimischen Imperium – es gab ja auch christliche – seine Konfession verlassen hat, wurde das als ein Akt der Illoyalität verstanden. Man hat ein politisches Statement abgegeben. Apostasie wurde in einem christlichen genau wie einem islamischen Reich als ein Akt des Verrats angesehen. Auch heute noch gilt politische Untreue als Verrat.

Und die zweite Ebene?

Moosa: Andererseits muss man sehen, dass diese Art der "imperialen Theologie" mit der Ankunft des Nationalstaats ausgelaufen ist: Es gibt die Vorstellung des Bürgertums und neue Ideen über individuelle Freiheit und die Rolle von Religion. Muslimische Theologie sagt heute Folgendes über Apostasie: Es ist eine Angelegenheit zwischen Mensch und Gott,  seinen Glauben zu wechseln. In einem modernen Nationalstaat ist Religion Privatsache, während Staat und Zivilgesellschaft den öffentlichen Raum gestalten. Aber diese Idee ist auch im Westen nicht unumstritten. Manche Christen möchten, dass der Staat christliche Werte übernimmt. Das würde die Beziehung zwischen privatem und öffentlichem Raum aber in einen Graubereich verwandeln.

Das Konzept der Apostasie wird doch heute noch in islamischen Ländern benutzt, um zum Beispiel Intellektuelle einzuschüchtern.

Moosa: Ohne Zweifel ist im theologischen Verständnis vieler Muslime der Abfall vom Glauben immer noch ein krimineller Akt. Eine jüngste Umfrage des "Pew Research Center" zeigt, dass selbst in einer Gesellschaft wie Tunesien viele Menschen dieser Meinung sind. Die Theologen machen keinen guten Job, wenn es darum geht, Menschen aufzuklären, dass es ist kein Verbrechen ist, in Glaubensfragen eine Wahl zu treffen. Wenn man das unter Strafe stellt, dann benutzt man Zwang in religiösen Fragen und das widerspricht der Lehre des Islam.

Welche theologischen Überlegungen sind notwendig, um dieses Problem zu lösen?

Moosa: Es verlangt ein neues Verständnis von Gott und davon, wie man Religion in einer modernen Gesellschaft sieht. Wir brauchen heute keine Theologie eines Imperiums mehr. Denn diese Art von Theologie schafft Vorstellungen von der Überlegenheit einer Religion oder eines Geschlechts über dem anderen. Heute ist der Nationalstaat dazu da, die Rechte des Einzelnen zu garantieren. Nach meinem Verständnis haben aber viele muslimische Länder den Nationalstaat nur als äußeren Rahmen übernommen, während ihre Gesetze nicht den modernen Menschenrechtsstandards entsprechen.

Die islamische Theologie steckt also noch immer in diesem imperialen Modus?

Moosa: Ja, es gibt deutliche Überbleibsel einer imperial-islamischen, politischen Theologie im Rechtssystem muslimischer Länder. Diese Theologie einer früheren Epoche muss durch kritisches Denken, Hinterfragen, durch Idschtihad (Interpretation) und Bildung aus den politischen und religiösen Vorstellungen entfernt werden.

Wie kann das geschehen, wenn doch die meisten Theologen in arabischen Ländern mehr oder weniger Marionetten ihrer Regime sind?

Moosa: In autoritären Gesellschaften sind Theologen entweder unterwürfig oder sie lehnen die Herrschenden komplett ab, weil ihnen schlicht die Legitimität fehlt. Politiker mögen in ihrem politischen Handeln säkular sein, aber in ihrer Theologie hängen sie sehr an überkommenen Vorstellungen. Säkulare muslimische Regierungen verfolgen kritische Intellektuelle, um zu beweisen, dass sie islamischer sind als ihre islamistischen Rivalen.

Sunnitische Gelehrte auf einer Konferenz der Azhar in Kairo; Foto: AFP/Getty Images/K.Desouki
Politisch entmündigt im autoritären Sisi-Staat: "Al-Azhar hat keine akademische Freiheit. Alles, was die Gelehrten heute sagen, kann gegen sie verwendet werden. Politische Freiheiten sind die Voraussetzungen für eine umfassende religiöse Reform, bei der vielfältige Ideen diskutiert werden", meint Ebrahim Moosa.

Wollen sie den Massen gefallen oder ist das einfach ihre Denkweise?

Moosa: Für Politiker ist Theologie so etwas wie ein politischer Fußball, um den Massen zu gefallen. Für mich schafft die Abwesenheit einer Theologie der Würde ein riesiges Vakuum in muslimischen Gesellschaften. Eine Theologie der Würde sollte die Messlatte und der Standard aller Werte werden. Auslegungen der heiligen Schriften und anderer Lehren, die diesem Standard nicht entsprechen sollten marginalisiert werden. Um das zu erreichen, braucht es eine Anstrengung zur Re-Interpretation des islamischen Rechts, der Theologie und der ethischen Praxis.

Bei Ihrem Vortrag in Deutschland sagten Sie, die islamische Theologie sei tot. Was bedeutet das?

Moosa: Es gibt nur wenige normale islamische Gesellschaften, in denen Menschen unter stabilen Bedingungen über die Natur des Guten reflektieren können. Große Teile der islamischen Welt sind im Aufruhr. In stabilen Staaten wie Indonesien, Malaysia, der Türkei oder Tunesien können Menschen Wege finden, um zu verstehen, wer sie sind, was Gott bedeutet und wie Gott sich in der Welt zeigt. Es gibt allerdings eine außerordentlich lebendige Theologie, das ist jene Theologie des Abnormalen, die Macht und Gewalt um jeden Preis schätzt, so wie die Theologie des "Islamischen Staates" oder  jene, die von autoritären Regimen gefördert wird.

Sehen Sie Anzeichen einer Neubelebung der islamischen Theologie?

Moosa: Man findet ausgezeichnete islamische Theologen zum Beispiel im multireligiösen Libanon mit seinem schiitischen und sunnitischen Islam und den unterschiedlichen christlichen oder säkularen Strömungen. Es gibt überall dort Anlass zur Hoffnung, wo Theologien wachsen, die die menschliche Würde betonen. Das kann im Libanon, in Indonesien, unter der islamischen Minderheit in Südafrika oder in den USA sein. Es erfordert aber einen politischen Freiraum. Man braucht die Freiheit, Dinge zu sagen, ohne dass theologische Widersacher demagogische Kampagnen anzetteln und die Regierung darum bitten, missliebige Theologen ins Gefängnis zu werfen.

Graffiti bearing the Islamic State flag in Solo, Central Java, Indonesia(photo: picture-alliance/AP)
Regressives Islamverständnis: "Es gibt eine außerordentlich lebendige Theologie, das ist jene Theologie des Abnormalen, die Macht und Gewalt um jeden Preis schätzt, so wie die Theologie des 'Islamischen Staates' oder jene, die von autoritären Regimen gefördert wird", so Ebrahim Moosa.

Historisch gesehen, gab es diese Vielfalt in der islamischen Theologie. Sie ist aber wohl verloren gegangen.

Moosa: Das ist eine der größten Tragödien des modernen Islam! Die Vielfalt in muslimischen Gesellschaften ist verloren gegangen, dabei ist sie gerade heute so wichtig. Das liegt zum Teil daran, dass Muslimen ihre eigene Geschichte fremd ist. Wir müssen diese große Vielfalt heute neu entdecken. Was heute als islamische Theologie fungiert, ist dagegen eine monolithische, sehr reduzierte und dünne Version. Das ist die größte Herausforderung für Muslime, egal ob sie in der Mehrheit oder in der Minderheit sind.

Wenn der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi von der Azhar, der Wiege der sunnitischen Gelehrsamkeit,  eine Reform des Islam verlangt…

Moosa: Solche Forderungen sind auf lange Sicht nicht attraktiv. Einige Theologen mögen dem folgen, aber es bleibt oberflächlich und wenig organisch. Zunächst braucht Al-Sisi selbst Reform, weil er ein Diktator ist. Aber viele Politiker vor ihm haben das Gleiche getan. Nasser hat die Azhar in ein Instrument des Staates umgewandelt. Al-Azhar hat keine akademische Freiheit. Alles, was die Gelehrten heute sagen, kann gegen sie verwendet werden. Politische Freiheiten sind die Voraussetzungen für eine umfassende religiöse Reform, bei der vielfältige Ideen diskutiert werden.

Im Islam sind die private und die politische Sphäre miteinander verbunden. Warum ist es so schwierig, diese zu trennen? Oder anders gefragt: Was ist ihre Haltung zur Säkularisierung?

Hamtramck, Michigan: the first town in the U.S. with a Muslim majority local authority (photo: DW/I. Pohl)
Ebrahim Moosa: "Wir brauchen heute keine Theologie eines Imperiums mehr. Denn diese Art von Theologie schafft Vorstellungen von der Überlegenheit einer Religion oder eines Geschlechts über dem anderen."

Moosa: Ich habe dazu keine festgefügte Meinung. Die Idee der Trennung in eine säkulare und eine religiöse Sphäre ist eine nützliche kognitive Fiktion. Sie ist in Europa aufgrund des speziellen Kampfes um eine Trennung der politischen Herrschaft von der kirchlichen Autorität entstanden. Das ist Europas Geschichte, nicht die Geschichte Nordafrikas oder des Nahen Ostens. Die ganze Welt auf solch ein Modell festzulegen, würde allerdings Zwang bedeuten. Die zentrale Frage lautet, wie man Wege finden kann, damit Regierungen ihre Arbeit tun, ohne das Wachsen der Gesellschaft zu behindern. Säkularisierung ist eine Möglichkeit. Es sollte aber auch andere Optionen geben.

Also eine Trennung von Staat und Religion ohne dies als "säkular" zu bezeichnen?

Moosa: Christliche, islamische und jüdische Theologen sind heute beunruhigt über einen säkularen Zug der mit Hybris und Missachtung für andere Lebensarten ungebremst in eine Richtung fährt. Damit will ich nicht Europa wieder christianisieren oder islamisieren oder jüdisch machen. Aber Europäer sollten eine gewisse Kritik des Säkularen akzeptieren. Das Säkulare hat die Religion dazu gebracht, einige seiner Positionen zu überdenken. Jetzt sollten Religionen dem Säkularen dabei helfen, sich zu hinterfragen. Jürgen Habermas hat in seinen frühen Jahren für eine strikte säkulare Rationalität plädiert und den Dialog mit den Religionen abgelehnt. Heute sagt er, wir brauchen ein intensives Gespräch mit den Religionen, weil er von ihrer Bedeutung überzeugt ist.

Warum brauchen wir diesen Dialog mit den Religionen?

Moosa: Wir brauchen dieses Gespräch mit den Muslimen in Europa, ohne ihnen eine säkulare Haltung als Vorbedingung abzuverlangen. Damit sollte Europa aufhören. Erlauben Sie den Muslimen ihren eigenen Bereich, damit sie ihre Heimat in Europa finden können. Wenn die gewalttätigen Akte einzelner als Vorwand genutzt werden, um alle Muslime in Westeuropa zu stigmatisieren, dann stellt man sie in eine Ecke. Man zwingt sie, sich zwischen ihrem Glauben und Europa zu entscheiden und dann wählen sie den Islam. Geben Sie den Muslimen in Europa Luft zum Atmen, dann können sie ihre Theologie entwickeln und sich so mit dem Säkularen auseinandersetzen, dass auch eine Korrektur des Säkularen möglich ist.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2016

Der Islamwissenschaftler Ebrahim Moosa lehrt an der privaten katholischen "University of Notre Dame" im US-Bundesstaat Indiana.