"Es gibt eine große Bandbreite unter den Islamisten"

Präsident Pervez Musharraf ist eine schillernde Persönlichkeit. Seine Widersprüchlichkeit passt zur Geschichte Pakistans – einem Staat, dessen Nation durch Religionszugehörigkeit definiert wurde. Hans Dembowski unterhielt sich mit der Historikerin Ayesha Jalal.

Präsident Pervez Musharraf ist eine schillernde Persönlichkeit. Seine Widersprüchlichkeit passt zur Geschichte Pakistans – einem Staat, dessen Nation durch Religionszugehörigkeit definiert wurde und in dem die Armee von Anfang an eine zentrale Quelle demokratisch unlegitimierter Macht war. Ayesha Jalal erläutert diese Zusammenhänge im Interview mit Hans Dembowski.

Präsident Pervez Musharraf während der Wahlen, Foto: AP
Präsident Pervez Musharraf während der Wahlen

​​Als General riskierte Musharraf im Kargil-Feldzug um Kaschmir 1999 den offenen Krieg mit Indien. Er unterlief damit Friedensbemühungen des damaligen Premiers Nawaz Sharif. Im vergangenen Monat hat Musharraf als – durch Putsch an die Macht gekommener – Staatschef abermals Friedensgespräche mit Neu-Delhi aufgenommen.

Der Militärmachthaber redet von Demokratie und Dezentralisierung – und hat verfassungsrechtlich im Präsidentenamt eine starke, zentrale Autorität geschaffen. Musharraf nutzte in der Vergangenheit durchaus islamistische Rhetorik, entkam aber im Dezember nur knapp zwei Attentatsversuchen.

Feinde machte er sich unter anderem dadurch, dass er Pakistan nach dem 11. September 2001 als Partner der USA positionierte und die Unterstützung der Taliban sofort aufgab. Die fundamentalistischen Krieger hätten in Afghanistan freilich nie die Macht übernommen, hätten ihnen in den Anfangsjahren nicht Pakistans Militär und Geheimdienst geholfen.

In Pakistan ist seit der Unabhängigkeit eine starke Tendenz zu Militärdiktaturen zu beobachten, während im Nachbarstaat Indien zumeist demokratisch gewählte Regierungen an der Macht waren. Da die beiden Länder einen gemeinsamen historischen Hintergrund haben, gibt es immer wieder Stimmen, die den Islam für diesen Unterschied verantwortlich machen. Sehen Sie das auch so?

Ayesha Jalal: Solche vereinfachten und reduzierenden Interpre-tationen werfen mehr Fragen auf als sie beantworten. Die Ursachen für lange Phasen von Militärdiktatur in Pakistan und ein formal demokratisches System in Indien liegen im jeweils unterschiedlichen politischen und institutionellen Erbe des Kolonialismus.

Indien übernahm die einheitliche Struktur des Kolonialstaates, während Pakistan einen völlig neuen Staatsapparat aufbauen musste, um Gebiete zu regieren, die durch über tausend Meilen indisches Staatsgebiet getrennt waren. Verglichen mit der etablierten Maschinerie der Kongresspartei in Indien hatte die Muslimische Liga in Pakistan nur beschränkte gesellschaftliche Unterstützung und unzureichende Organisationsstrukturen in den Gebieten, die Teil des Landes wurden.

Im Kontext des Kalten Krieges und der politischen Spannungen mit Indien hat das die ungewählten Institutionen des neuen Staates – die Verwaltung und das Militär – befähigt, die Überhand über Parteien und Politiker zu gewinnen. Dieses Ungleichgewicht in der Struktur des Staates ist dafür verantwortlich, dass Demokratie bisher ein unerreichbares Ziel geblieben ist - nicht der Islam.

Hat der Islam als Religion oder als ideologische Basis des Selbstverständnisses der pakistanischen Nation etwas an sich, das per se nicht mit repräsentativer Regierung vereinbar ist?

Jalal: Es ist nicht der Islam an sich. Es sind die speziellen Interpretationen des Islam, die benutzt werden, um die ideologische Basis Pakistans zu definieren, die sich als unvereinbar mit dem Aufbau einer stabilen repräsentativen Regierungsform herausgestellt haben. Die oben erläuterten politischen Probleme kommen dazu.

Grundsätzlich beanspruchen aber alle modernen Nationalstaaten, gleiche Bürgerrechte für alle zu gewährleisten, unabhängig von Glaube, Rasse oder sozialen Unterschieden. Die Nationen, die sich religiös definieren, machen sich diese Aufgabe sicher nicht leichter. Andererseits sind Staaten, die sich selbst als "sekular" bezeichnen, kaum erfolgreicher darin, gleiche Behandlung für alle zu gewährleisten, unabhängig von religiöser, Kasten- oder Sektenzugehörigkeit.

Beziehen Sie sich hier auf Ihre These, dass das formal demokratische Indien in der Praxis nicht sehr viel weniger autoritär ist als Pakistan, weil die Durchsetzung des Gesetzes nicht gewährleistet ist und traditionelle Machtverhältnisse oft im täglichen Leben den Ausschlag geben?

Jalal: Ja. Autoritäre Machtstrukturen zeigen sich auf unterschiedliche Weise im politischen System Indiens.

In meinem Buch "Democracy and Authoritarianism in South Asia" argumentiere ich, dass es neben der formalen Demokratie in Indien versteckte Formen autoritärer Herrschaft geben kann und gibt, die in den institutionellen Strukturen des postkolonialen indischen Staates verwurzelt sind. Eine genaue Untersuchung der Verflechtung zwischen gewählten und ungewählten Institutionen in bestimmten Regionen Indiens zeigt das ganz deutlich.

Müsste man nicht eigentlich erwarten, dass die egalitären Prinzipien des Islam förderlicher für die Demokratie sind als das hierarchische Menschenbild des Hinduismus?

Jalal: Trotz seiner egalitären Prinzipien hat es der Islam in der Geschichte Südasiens nicht geschafft, die Auswirkung von Klassen- und Kasten-Ungleichheit zu vermeiden. Was den Hinduismus betrifft, sind die hierarchischen Prinzipien der brahmanischen Gesellschaftsordnung schon immer aus der hinduistischen Gesellschaft selbst heraus in Frage gestellt worden. Das weist darauf hin, dass Gleichheit sowohl wertgeschätzt als auch praktiziert wurde und weiterhin wird.

Ist Präsident Musharrafs Versprechen, Pakistan zur funktionierenden Demokratie zu führen, glaubwürdig?

Jalal: Das ist es leider nicht. Wie kann er Demokratie einführen, wenn er gleichzeitig so verbissen versucht, alle Macht zu behalten, weil dies das Interesse der Armee ist? Wenn Demokratie in Pakistan Fuß fassen und sich entwickeln soll, muss es eine Machtverschiebung von den ungewählten hin zu den gewählten Institutionen geben. Genau das ist es aber, worauf General Musharraf sich höchst widerwillig einlässt. Bei all seinem Reden über die Einführung von Gewaltenteilung ist er nicht bereit, eine Kontrolle seiner eigenen Rolle zu akzeptieren.

Sehen Sie eine Basis für demokratischen Fortschritt in Pakistan?

Jalal: Demokratie kann in Pakistan nur Fuß fassen, wenn sie eine faire Chance bekommt. Das Problem ist bisher, dass ausgedehnte Phasen unter einem Militärregime abgewechselt von nur kurzen Zeiten unter gewählter Regierung nicht ausreichen, um den Übergang zur Demokratie zu sichern. Das ist besonders der Fall in einem Land wie Pakistan, wo es ein strukturelles Ungleichgewicht gibt zwischen gewählten und ungewählten Institutionen.

Als Minimum braucht Pakistan eine ununterbrochene Amtsperiode einer gewählten Regierung. Nicht eine der gewählten Regierungen zwischen 1985 und 1999 hat es geschafft, eine volle Legislaturperiode im Amt zu bleiben.

Aber Demokratie hat natürlich nicht nur etwas mit Wahlen in regelmäßigen Abständen zu tun. Teile der Zivilgesellschaft haben begonnen, Raum zu schaffen für freie und wichtige Debatten über eine Vielzahl von Fragen, die sich Pakistan stellen. Man kann nur hoffen, dass das auf lange Sicht dazu führt, die Demokratie im Land zu stärken. Außerdem könnte das internationale Umfeld in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle spielen.

Aber es reicht nicht aus, rhetorische Gesten in Richtung Demokratie zu machen, während man gleichzeitig mit einem Militärregime zusammenarbeitet. Die USA, Europa, ja die ganze internationale Gemeinschaft könnte Einfluss auf die Erfolgsaussichten für ein demokratisches Pakistan nehmen – wenn sie praktizieren würde, was sie predigt.

Welche realistische Alternative gibt es dazu, mit Musharrafs Regime zusammenzuarbeiten?

Jalal: Zusammenarbeit mit der Regierung Musharraf muss nicht bedeuten, seinen Versuch abzusegnen, die Vormachtstellung der pakistanischen Armee innerhalb des Staatsapparates festzuschreiben. Es ist wichtig, den Einfluss, den bestimmte Länder auf das Musharraf-Regime haben, zu benutzen, um es von der Notwendigkeit einer neuen Gewichtung des Verhältnisses von gewählten und ungewählten Institutionen zu überzeugen – insbesondere geht es um das Verhältnis von Parlament und Militärführung.

Musharrafs Militärregime ist in einem Punkt anders als frühere Diktaturen in Pakistan. Man hört viel weniger über Menschenrechtsverletzungen. Beispielsweise ist die Presse noch einigermaßen frei und nutzt das auch. Heißt das, dass die Zivilgesellschaft tiefere Wurzeln gefasst hat?

Jalal: Ja, Musharrafs Militärregime unterscheidet sich in vielen Dingen von dem Zia-ul-Haqs. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass es unter Musharraf keine Verletzung der Menschenrechte gibt. Im Gegenteil: Leute, die sich mit den herrschenden Machtverhältnissen nicht arrangieren, können ein Lied davon singen, dass der Druck, dem sie ausgesetzt sind, in gewisser Weise genauso schlimm ist wie unter Zia – wenn nicht sogar schlimmer.

Es gibt außerdem Kritiker, die argumentieren, dass Musharraf in gewisser Weise gefährlicher ist als Zia, weil er Teile der Zivilgesellschaft in falsche Sicherheit wiegt. Gemeint ist Folgendes: Während Musharraf seine autoritäre Herrschaft festigt, indem er sich als sekular, gemäßigt, liberal und demokratisch ausgibt, machte Zia keinen Hehl aus dem konservativen und skrupellosen Charakter seiner autoritären Herrschaft.

Es ist jedoch ohne Frage so, dass Musharrafs Regime einen weitaus größeren Freiraum für kontroverse Debatte eröffnet hat, als in den elf Jahren der Diktatur unter Zia jemals zulässig war – die Presse etwa ist in weiten Teilen relativ frei. Seine Regierung hat außerdem versucht – wie wenig erfolgreich auch immer –, den sektiererischen Gruppen Einhalt zu gebieten, die Pakistans zerbrechliches soziales Gefüge zu zerstören drohten.

Außerdem hat es Versuche gegeben, bestimmten NGOs größeren Zugang zu den staatlichen Institutionen zu gewähren und damit ihre Rolle in der Zivilgesellschaft zu stärken. All das mag den Eindruck erwecken, dass die Zivilgesellschaft in Pakistan an Bedeutung gewinnt. Das Problem ist aber, dass in Musharrafs Sicht der Dinge, die das Militär an oberste Stelle stellt, wenig Platz ist für eine effektive Ausweitung der Rolle der Zivilgesellschaft gegenüber dem militärisch dominierten Staat.

Vor dem 11. September 2001 kam Musharraf den "sektiererischen Gruppen", die Sie erwähnt haben, ziemlich nah – beispielsweise bei seiner rhetorischen Unterstützung der moslemischen Aktivisten in Kaschmir und besonders während des Kargil-Feldzugs der Armee. Wozu brauchte er solche islamistische Rhetorik?

Jalal: Die islamistische Rhetorik ist Teil der ideologischen Projektionen des vom Militär beherrschten pakistanischen Staats seit der Zeit, als sich Zia-ul-Haq dem von den USA unterstützten "Jihad" gegen die Sowjetinvasion in Afghanistan anschloss. Musharraf übernahm diese Politik, wurde eine Meister darin, sie effektiv zu verkaufen, und erst nachdem er an der Macht war, versuchte er sie wieder zu loszuwerden, weil sie nicht mehr in seine bevorzugte Vision von Pakistans "nationalem Interesse" passte.

Die islamistische Rhetorik, die die pakistianische Kashmir-Politik in den 1990er Jahren rechtfertigte, diente den Interessen der Armee. Trotz der Ungleichheit in konventioneller Militärkraft zwischen den zwei Nachbarn, bedeutete eine solche Politik, einen beachtlichen Teil der indischen Armee in einem langsam vor sich hin schwelenden Konflikt in Kaschmir zu binden, ohne dass das merkliche neue Belastungen für die Staatskasse brachte oder eine akute Bedrohung der pakistanischen Grenzen zu Indien.

Die Entscheidung Neu-Delhis für Atomtests im Mai 1998 bestätigte die pakistanische Militärführung nur in ihrem Glauben, dass – was auch immer an der umkämpften Kontrolllinie in Kaschmir geschah – Indien keinen Angriff auf Pakistans internationale Grenzen riskieren werde.

Pakistan steckt in großen Schwierigkeiten – nicht zuletzt, weil es in die Tragödien in Afghanistan verwickelt ist. Welche Auswirkungen hat der von den USA angeführte "Krieg gegen den Terror" auf die innenpolitische Situation Pakistans?

Jalal: Die positive Seite der Medaille ist, dass der 11. September das pakistanische Militärregime dazu gezwungen hat, seine Pro-Taliban-Politik zu überdenken, die katastrophale internationale, regionale und innenpolitische Auswirkungen hatte. Das hat Pakistan aus der internationalen Isolation geholt und es möglich gemacht, dass Pakistan dringend notwendige Hilfe von außen erhalten kann.

Wirtschaftlich gesehen hat sich die Situation verbessert, obwohl noch viel mehr getan werden muss, um das alarmierende Anwachsen der Armut in den vergangenen zehn Jahren rückgängig zu machen.

Politisch gesehen bereitet der "Krieg gegen den Terror" dem Regime Musharraf starke Kopfschmerzen. Es bedeutete, eine taktische Verbindung mit den USA einzugehen, und das setzte Musharraf dem Vorwurf des "Ausverkaufs" an den amerikanischen Imperialismus aus, ein Vorwurf, der nicht nur für sogenannte Islamisten ein wunder Punkt ist, sondern auch für viele gemäßigte liberale Nationalisten.

Aber auch wenn der von den USA angeführte "Krieg gegen den Terror" für Musharraf ein zweischneidiges Schwert ist, hat er ohne Zweifel international an Ansehen gewonnen. Das ermutigte ihn, seine innenpolitischen Ziele noch entschlossener zu verfolgen. Das wiederum führte schließlich zum Patt mit den Opposititonsparteien in der verfassungsrechtlichen Frage der "Legal Framework Order".

Verfolgen Islamisten eine echte religiöse Agenda oder dienen sie anderen Zielen?

Jalal: Es gibt eine ziemlich große Bandbreite unter den "Islamisten". Die meisten von ihnen sind überzeugt davon, dass sie religiöse Ziele verfolgen. Sicherlich sind ihre Kritik und ihre Forderungen in islamischer Rhetorik formuliert. Aber es ist durchaus ein Streitpunkt, ob ihre Motivation "rein religiös" ist, da sie in den meisten Fällen auf weitgehend weltlichen Erwägungen basiert.

Ohne eine leichtfertige und generalisierende Abgrenzung zwischen "religiös" und "weltlich" zu machen, kann ich nur sagen: Es ist wichtig, in jedem Einzelfall ganz genau hinzugucken, wenn man bewerten will, in welchem Ausmaß religöse Fragen wichtiger sind als weltliche Macht.

Gedeiht religiöser Fundamentalismus besonders durch die Tatsache, dass die meisten anderen gesellschaftlichen Kräfte, die in Opposition zur Regierung stehen, ihre Glaubwürdigkeit verloren haben?

Jalal: Ja, das ist im Großen und Ganzen richtig. Die großen Hoffnungen der Leitbilder der Modernisierung, dass ökonomische Entwicklung die Lebensqualität aller erhöhen würde, haben sich zerschlagen. Stattdessen hat das ökonomische Wachstum nur dazu geführt, dass wenige Privilegierte auf Kosten der vielen anderen leben.

Das wiederum schuf Raum für Kritik durch politische Kräfte mit religiösen Heilsversprechen, die die Berechtigung prowestlicher Eliten, die nationalen Ziele zu bestimmen, in Frage stellen.

Haben die traditionell engen Beziehungen zwischen den USA und Pakistan jemals eine gemeinsame ideologische Grundlage gehabt, außer Antikommunismus und Feindseligkeit gegenüber Indien?

Jalal: Die Beziehungen zwischen den USA und Pakistan basierten immer auf Eigeninteressen, die sich in den verschiedenen historischen Phasen jeweils verschoben haben. Während der Hochphasen des Kalten Krieges sah Washington Pakistan als nützlichen Verbündeten gegen die Ausbreitung des Kommunismus. Es ist fraglich, ob die Anwerbung Pakistans in diesem Kampf etwas mit Feindseligkeit gegen Indien zu tun hatte. Es war einfach für die USA von Vorteil, da Indien in dieser Zeit eine Politik der Blockfreiheit betrieb.

Pakistan seinerseits schloss sich der US-amerikanischen Sache im Mittleren Osten und Südostasien an, weil es sich im Gegenzug militärische Unterstützung in eigener Sache erhoffte und damit eine Stärkung der Verteidigungskraft gegenüber Indien.

Das Verhältnis zwischen den USA und Pakistan war also immer geprägt von widersprüchlichen Zielen beider Seiten. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und Indien hatte Pakistan zunehmend politisch außen vor gestanden – bis sich das mit dem 11. September wieder änderte.

Interview Hans Dembowski

© Entwicklung und Zusammenarbeit 3/2004

Prof. Dr. Ayesha Jalal lehrt südasiatische Geschichte an der Tufts University in den USA.