Ein Kunstprojekt mit Tiefgang

Kann man seine Fluchterfahrungen über das Mittelmeer künstlerisch verarbeiten? Man kann - mit dem Projekt "Seefracht - Mensch" der Malteser in Ahaus bei Münster. Wolfgang Dick stellt es vor.

Von Wolfgang Dick

Die Schreie auf den Schlauchbooten und Holzkuttern sind verstummt. Frauen und Kinder beten. Männer schweigen oder sprechen noch einmal über Handy mit Verwandten, weil sie fürchten, dass sie jeden Moment kentern. Die Flüchtlinge liegen auf den größeren Holzbooten "gestapelt" - in fünf Schichten übereinander. Die Schleuser wollen so viele Menschen wie möglich aufnehmen. Je mehr Menschen umso mehr Gewinn.

Jeder einzelne Flüchtling zahlt für diesen Horror im Schnitt zwischen 1.500 bis 4.000 Dollar. Das Geld sammeln teilweise 40 Familienmitglieder und Nachbarn in der Hoffnung, wenigstens einem Menschen aus ihrer Umgebung "das Glück in Europa" zu ermöglichen.

Dem Iraker Thamer (22) und dem Syrer Khabat (33), seiner Frau und seinen beiden Kindern ist es tatsächlich gelungen, nach Deutschland zu kommen - in einer Odyssee, die teilweise durch sieben Länder führte. In Deutschland hatten sie Glück. Nach einem Aufenthalt in einem Flüchtlingsheim kamen sie zu den Maltesern. Die katholische Hilfsorganisation stellt den Flüchtlingen sogenannte "Integrationslotsen" zur Verfügung, Menschen, die Flüchtlingen in Alltagsfragen helfen.

Das Werk und der Kummer

Thamer und Khabat legen bei den Maltesern in Ahaus-Alstätte nahe der niederländischen Grenze Paletten in mehreren Etagen in einem Oval übereinander. Die Euro-Paletten sollen für das Mittelmeer stehen. In die Mitte dieser Installation legen sie Grabsteine aus Gips und Kreuze als Symbol für alle Menschen, die die Flucht mit den Booten über das Mittelmeer nicht überlebt haben.

Thamers Vater zum Beispiel starb. Trotzdem wirkt Thamer fast heiter. Wie kommt das? Ines Ambaum, die künstlerische Projektleiterin, erklärt das so: "Thamer ist noch jung und er will sein Gesicht nicht verlieren. Er will den Älteren, vor allem seinen Landsleuten, mit denen es schon einmal Reibereien gab, beweisen, dass er ein harter Mann ist".

Blick auf die Installation "Seefracht - Mensch"; Foto. DW
Mörderische Reise über das Massengrab Mittelmeer: Jedem Besucher der Ausstellung soll klar werden, dass bei dieser Mahn-Installation im Kulturquadrat von Ahaus etwas nicht stimmt. Menschen sind natürlich keine Fracht. Aber die Realität in Nordafrika sieht anders aus. Flüchtlinge werden wie Seefracht behandelt. Es fließen immer wieder Tränen. Dann schweigen alle.

Viele Flüchtlinge zeigen "mehrere Gesichter". Jeder hat seinen eigenen, persönlichen Grund. Aber mit jedem Tag, den die Frauen und Männer an dem Kunstwerk arbeiten, öffnen sie sich der Künstlerin gegenüber. Mit jeder Schraube bohren sich die Erinnerungen an die Flucht über das Mittelmeer zurück. Ziel des Projekts ist, dass die Flüchtlinge ihre Erlebnisse verarbeiten, in ein Kunstwerk einarbeiten und so die Menschen auf ihre Notlage aufmerksam machen.

Absolute Alpträume

Die Erlebnisse, die zur Sprache kommen, sind entsetzlich. So haben Männer aus Eritrea ihre Schwestern mitgenommen. Zum Schutz der Frauen behaupteten die Männer aus Eritrea aber, dass es ihre Ehefrauen seien. Ein fataler Fehler. Denn die Schleuser ahnten, dass die Angaben nicht stimmten und trieben einen perversen Wahnsinn.

Sie forderten die Männer aus Eritrea auf, mit ihren angeblichen Frauen Sex zu haben, um in die Fluchtboote kommen zu dürfen. Weil sich die Männer aus Eritrea weigerten, beschlossen die Schleuser, die Frauen selbst zu vergewaltigen. Grauenvoll. Etliche dieser Frauen stellten erst in italienischen Flüchtlingslagern fest, dass sie schwanger waren. Nicht wenige brachten sich daraufhin um.

"Wenn man sich vorstellt, dass die Menschen, die so etwas erlebt haben, in Deutschland von fremdenfeindlichen Leuten angegriffen und durch Fußgängerzonen gejagt werden, wirkt das wie eine zweite Vergewaltigung", sagt Ines Ambaum.

Khabat, Thamer und Künstlerin Ines Ambaum bei der Montage; Foto: DW/W. Dick
Integration ist machbar, Herr Nachbar: Der Syrer Khabat beweist es. Er ist nach zweieinhalb Jahren so weit, dass er für die Malteser, die ihm geholfen haben, selbst als Integrationslotse arbeitet und andere Flüchtlinge mit dem Bus von zuhause abholt, damit diese an der wöchentlichen Kaffeetafel mit ihren Familien teilnehmen können. Ein deutscher Führerschein, absolviert in arabischer Sprache, macht es möglich.

Die Mahn-Installation im Kulturquadrat von Ahaus trägt den Titel "Seefracht - Mensch". Jedem Besucher der Ausstellung soll klar werden, dass hier etwas nicht stimmt. Menschen sind natürlich keine Fracht. Aber die Realität in Nordafrika sieht anders aus. Flüchtlinge werden wie Seefracht behandelt. Es fließen immer wieder Tränen. Dann schweigen alle.

Die Künstlerin wird Freundin

"Chanzla" - "Kanzlerin" - nennen Flüchtlinge die Künstlerin inzwischen und begrüßen sie freudestrahlend. Sie sind dankbar dafür, dass sie ihnen so häufig einfach nur zugehört hat. Warum dann nicht mal aus Dankbarkeit eine Umarmung?

"Ines auch Mensch", sagt Thamer in noch etwas gebrochenem Deutsch, das er nach einem Jahr Sprachkurs aber häufig schon erstaunlich perfekt beherrscht. Eine Frau umarmen, mit der man nicht verheiratet ist, das ist eine streng verbotene und absolut sündhafte Handlung in seiner Heimat Irak. "Das ist genau das Problem", findet die Künstlerin.

Die Künstlerin Ines Ambaum; Foto: DW/W. Dick
Künstlerin Ines Ambaum: "Ich bin zuversichtlich, dass 98 Prozent aller Flüchtlinge absolut integrationsfähig sind"

"Durch die Arbeit mit den Flüchtlingen hat sich mein Leben verändert", erzählt Ines Ambaum. Während sie es früher auch mal aufregend fand, mit dem Billigflieger nur für ein Frühstück nach Paris zu fliegen, sei so etwas für sie heute unvorstellbar. "Wenn man die Schicksale der Flüchtlinge verfolgt, vergeht einem diese Dekadenz."

Das Handy als einzige Verbindung zur Familie

Dazu komme auch das Verhalten vieler Deutscher, die sich über jede Kleinigkeit aufregen würden. "Viele Probleme zwischen Deutschen und Ausländern entstehen, weil man sich hier ständig mit anderen vergleicht." Bei den Flüchtlingen werde zum Beispiel immer nach den Handys gesehen. Wehe, wenn da einer ein moderneres hat, als man selbst besitzt. "Das bezahlen alles wir von unseren Steuergeldern", hätten einige ihrer Bekannten geschimpft, dabei aber übersehen, dass ein Handy die einzige Verbindung der Flüchtlinge zu ihren Familien in der Heimat bedeutet.

Es gibt diese Freunde in ihrem Umfeld nicht mehr. Ines hat sich von ihnen losgesagt. Das fiel ihr leicht. Die vermeintlichen Freunde hatten sie immerhin aus einer WhatsApp-Gruppe geworfen. Der Grund: Ines hatte 20 Flüchtlinge eingeladen. "Dann geh doch gleich zu den Kanaken" hat sich Ines anhören müssen. "Oft liege ich nachts wach und kann nicht schlafen." Hoffnung gebe ihr dann, dass sie direkt erlebt, wie sich die von ihr betreuten Flüchtlinge in Deutschland entwickelten.

"98 Prozent sind voll integrierbar. Aber das schreibt ja keiner", beklagt Ines Ambaum. "Das klingt der Presse ja zu positiv und passt offenbar nicht in den Zeitgeist. Aber es stimmt. Ich erlebe es jeden Tag."

Der Syrer Khabat beweist es. Er ist nach zweieinhalb Jahren so weit, dass er für die Malteser, die ihm geholfen haben, selbst als Integrationslotse arbeitet und andere Flüchtlinge mit dem Bus von zuhause abholt, damit diese an der wöchentlichen Kaffeetafel mit ihren Familien teilnehmen können. Ein deutscher Führerschein, absolviert in arabischer Sprache, macht es möglich.

Wolfgang Dick

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