Ein lyrischer Dialog zwischen Ost und West

Kürzlich erschien eine Hommage an Goethes West-östlichen Divan mit dem Titel "Ein neuer Divan". Dafür wurden 24 Lyriker aus dem Orient und dem Okzident beauftragt, Gedichte als Antworten auf die Themen der zwölf Bücher des Divans zu schreiben. Von Noha Abdelrassoul

Von Noha Abdelrassoul

Für den Kulturwissenschaftler und Ägyptologen Jan Assmann ist Mythos ein Vergangenheitsbezug, der zweier Funktionen dient: Man kann damit entweder das Gegenwärtige in das Licht der Geschichte stellen, oder das Vergangene und Verlorene hervorheben.

In dem Gedicht Stählerne Pferde kehrt sich der kürzlich verstorbene jordanische Dichter Amjad Nasser zunächst von Mythen bewusst ab, wenn er den vom IS entführten und für sein Engagement im Dialog mit dem Islam bekannten Jesuiten und Islamwissenschaftler Paolo Dall'Oglio, anredet: “Du wirst hier keine Götter oder Helden treffen / wie in den Epen […] / diese Wüste, in die du kamst mit erhobenen Händen, / bringt keine Propheten mehr hervor“.

Er vergleicht die Realität im heutigen Syrien mit Dantes Inferno und vermischt die Figuren des aus dem 14. Jahrhundert stammenden Epos mit Bildern aus der Gegenwart, um sich von der Geschichte und dem religiösen Erbe zugunsten des "Jetzt" und der Realität abzukehren.

Christliche und Koran-Bezüge

Anders verweisen Dichter wie Jan Wagner und Khaled Al-Mottawa in ihren Gedichten auf Figuren aus den religiösen Überlieferungen. Al-Mottawa vergleicht in seinem Gedicht Easter Sunday, Rajab in Mid-Moon die Entdeckungsreise eines Dichters mit der Reise von Khidr, dem Weisen, von dem Moses lernen wollte. Mit dem letzten Vers des Gedichts "Muss er / noch das Lebendige preisen, dass nach Flammentod sich sehnet?" spielt Al-Mottawa auf Goethes Gedicht Selige Sehnsucht an.

Im Gedicht "ephesusghasele" behandelt Jan Wagner die Geschichte der Sieben Schläfer, die auch wie die Geschichte von Khidr in der Sure Al-Kahf (Die Höhle) im Koran erzählt wird. Da diese Sure wie keine andere einen narrativen Charakter hat, lässt es sich nachvollziehen, wenn die Literatur darauf Bezug nimmt, bzw. sich zufällig mit ihr überschneidet. In "Ephesusghasele" dient die Geschichte, die auch in christlichen Überlieferungen erzählt wird, als Anschluss an das Thema vom 12. Buch in Goethes Divan, Khuld Nameh (das Buch des Paradieses, auch: der Ewigkeit).

Die Tradition, sich von religiösen Texten inspirieren zu lassen, ist in Goethes Divan ebenfalls präsent. Der Koranvers "Allah gehört der Osten und der Westen" (Sure Albaqara, Vers 115) findet sich, − dadurch, dass Hafis in seiner Lyrik sich auf den Koran bezog, − auch in Goethes berühmten Versen "Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident!" des Gedichts Talisman wieder. Selige Sehnsucht und zahlreiche andere Gedichte weisen Parallelen zum Sufismus.

Auftragslyrik

Goethe konnte sich in dem Divan auf seine Liebesgeschichte zu der verheirateten Marianne von Willemer erst beziehen, nachdem er sich und seiner Geliebten andere Namen gab: Hatem und Suleika (die Frau, deren Liebe zu Jusuf unerwidert blieb und deshalb als Muster brennender Liebe galt).

Als die emiratische Lyrikerin Nojoom Alghanim in der Veranstaltung "A woman's voice is revolution" − eine von mehreren Veranstaltungen des dreitägigen Festivals, der den Launch des Divans im November in Berlin feierte, − von ihrer Haltung zu Auftragslyrik sprach, war sie zunächst zurückhaltend. Mit Goethe habe sie sich in der Vergangenheit nicht viel beschäftigt, sie habe ihn bisher nur als "Klassiker" gelesen.

Nach längerer Beschäftigung mit dem Divan fand sie doch den Reiz an Goethes kodierten Bezügen auf den Briefwechsel mit seiner Geliebten. Die Mystik dahinter regte sie an, einen lyrischen Dialog zwischen Hatem und Suleika zu schreiben.

Andererseits lehnt die ägyptische Lyrikerin und Professorin für arabische Sprache und Literatur Iman Mersal ihr Gedicht Dein Duft ist der Staub der Erde an den Divan bewusst nur thematisch an. Sie erklärte, sie brauche für ihre Lyrik den persönlichen Anschluss. Der erzählerische Charakter ihres Gedichts, der weit in die Geschichte der zwei Liebenden zurückgreift wie in: "die Stadt, vor deren Krieg du geflohen bist, in deren Spiegeln du immer noch Leichen siehst." und sie gleichzeitig durch die Verstrickung mit dem Alltag allgegenwärtig macht, ermöglicht dem Leser eine gattungsüberschreitende Leseerfahrung.

In dem Gedicht vermischen sich auch Traum und Realität: "Wir sind Menschen durch und durch, wir träumen nicht vom Fliegen / an deiner Seite schlafen gleicht eher der Rückkehr zur Erde / und dein Duft ist der staubige Boden der Welt".

Übersetzung oder Nachdichtung?

In dem neuen Divan ist Übersetzung nur als Zwischenstufe vorgesehen, die − bis auf eine einzige ausgewählte Übersetzung im Anhang − nicht in dem Divan beinhaltet ist. Stattdessen sind die Nachdichtungen von deutschen Lyrikern, die sie mit Hilfe von Interlinearübersetzungen erstellten, zu lesen.

Gemälde von Johann Jacob von Lose zeigt Marianne von Willemer, die am 6.12.1832 verstarb; Foto: picture-alliance/dpa
Goethe konnte sich in seinem Divan auf seine Liebesgeschichte zu der verheirateten Marianne von Willemer erst beziehen, nachdem er sich und seiner Geliebten andere Namen gab: Hatem und Suleika (die Frau, deren Liebe zu Jusuf unerwidert blieb und deshalb als Muster brennender Liebe galt).

Es gibt kein festes Konzept, das sie dabei verfolgen: Die Nachdichtungen reichen von Übersetzungen, zu Antworten auf die Originaltexte ohne Hinweis, um welche Art es bei jeder Nachdichtung handelt, was zu Verwirrung führt. In den Anmerkungen wird z.B. ein übersetztes Gedicht von Iman Mersal als ein Gedicht von Steffen Popp, obwohl es in der Übersetzung fast unverändert blieb.

Mit "Nachdichtung" als Überbegriff kann niemand, der die Originalsprache nicht beherrscht, den Faden zum Originaltext sehen. Dabei gibt es Abweichungen, die nicht unbedingt der Erleichterung des Leseflusses im Deutschen oder einer poetischen Vorstellung dienen, sondern die aus sprachlichen Missverständnissen entstanden sind.

In Stählerne Pferde zum Beispiel wird das arabische يروي mit erzählen übersetzt, obwohl die andere Bedeutung des gleichlautenden Wortes: "Durst löschen" gemeint ist. So heißt es in der Nachdichtung: "für dieses Land gibt es kein Wasser, das spröde ist / und aufgeplatzt vor Durst […]. Ströme von Blut, ohne was zu erzählen." Die Verse sollten folgenderweise lauten: Für dieses Land gibt es kein Wasser, das spröde ist / und aufgeplatzt vor Durst […]. Ströme von Blut, die den Durst nicht löschen.

In Suleika und Marilyn von Abbas Beydoun sind Subjekte und Objekte vertauscht. Die Verse "ماذا تفعل أيها الشاعر العجوز... حتى متى تنتظر زليخا / لقد واكبت مارلين إلى القبر / وعما قريب في مكان آخر ستقع في الحفرة" wurden mit "Was machst du, alter Poet […] / wie lange wartet Suleika / Marilyn nähert sich ihrem Grab / Bald sinkst du an fremder Stelle in den Abgrund" und sie sollten wie folgend lauten: Was machst du, alter Poet […] / wie lange wartest Du auf Suleika / Du hast Marilyn bis zu ihrem Grab begleitet / Bald sinkst du an fremder Stelle in den Abgrund".

Das im Vorwort des Buches verkündete Ziel, den lyrischen Dialog zwischen dem Osten und dem Westen fortzusetzen, wäre besser gelungen, wenn auch der Leser die Einsicht in die  ursprüngliche Übersetzung der Gedichte bekäme und wenn es ein Konzept für die Nachdichtung gäbe.

Noha Abdelrassoul

© Qantara.de 2020

Barabara Schwepcke & Bill Swainson (Hg.): "Ein neuer Divan - Ein lyrischer Dialog zwischen Ost und West", Suhrkamp Insel Verlage, 228 Seiten, ISBN: 978-3-518-42872-6