Eine privilegierte Partnerschaft

Als vor 100 Jahren der Erste Weltkrieg begann, waren deutsche Berater im Osmanischen Reich ein gewohntes Bild. Durch das Bündnis mit der Militärmacht Deutschland wollten die Osmanen ihre Niederlagenserie umkehren. Letzten Endes verloren sie mit dem Krieg ihr ganzes Reich. Von Jakob Krais

Von Jakob Krais

Die Russen waren überrascht. Am Morgen des 29. Oktober 1914 erwachte man auf der Krim durch Geschützfeuer, Schiffe sanken, Öltanks gingen in Flammen auf. Das Osmanische Reich griff die russische Schwarzmeerflotte an.

Das Zarenreich befand sich zwar im Krieg, allerdings nicht mit den Osmanen im Süden, sondern mit den Deutschen im Westen. Vielleicht wären die Russen an jenem Morgen weniger überrascht gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass man an Bord der osmanischen Kriegsschiffe Deutsch sprach, der Befehlshaber Wilhelm Souchon hieß und Admiral der kaiserlichen deutschen Marine war.

Offiziere und Ingenieure als deutsche Exportschlager

Im Ersten Weltkrieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich auf ihrem Höhepunkt. Bereits während des 19. Jahrhunderts wurden deutsche Offiziere von den Sultanen angeheuert, um deren von Niederlagen gebeutelte Armee zu modernisieren. Das preußisch-deutsche Heer galt damals nicht nur in Istanbul als das beste der Welt. Im Gegenzug hatte Kaiser Wilhelm II. auf einer Orientreise von dem "freundlichen Empfang" durch Sultan Abdülhamit II. geschwärmt und sich selbst als "treuer Freund" der Muslime präsentiert.

Bagdad-Bahn; Foto: picture-alliance/dpa
Strategisch wichtig für Deutschland: Mit der Fertigstellung und Nutzung der Bagdad-Bahn wollte sich das Deutsche Reich von den Ölimporten aus den USA unabhängig machen, denn der Fall einer Seeblockade und einem, damit zusammenhängendem Lieferstopp, hätte kriegsentscheidend sein können. Ab 1915 wurde die Bahn auch im Zuge des armenischen Völkermordes benutzt, um die Armenier systematisch in Richtung der Syrischen Wüste zu deportieren.

Hinter dieser Freundschaftsrhetorik standen freilich handfeste Interessen. Die Reform des osmanischen Militärs brachte der deutschen Rüstungsindustrie ganz nebenbei lukrative Aufträge ein.

Schon vor 100 Jahren waren außerdem deutsche Ingenieure im Nahen Osten gefragt. Das Frankfurter Bauunternehmen Holzmann war für zwei spektakuläre Großprojekte verantwortlich: Mit der Bagdad-Bahn würde man in der damals schier unvorstellbaren Zeit von weniger als zwei Wochen von Berlin an den Tigris gelangen, die Hedschas-Bahn sollte die muslimischen Pilgerscharen nach Mekka bringen – eine Aufgabe, die später übrigens das ebenfalls in Frankfurt ansässige Unternehmen Fraport übernahm, das bis Juni 2014 den Flughafen im saudischen Dschidda managte.

Der "kranke Mann am Bosporus" und die Tücken der Partnerschaft

Die interkulturelle Kommunikation blieb jedoch schwierig: Viele preußische Offiziere mit ihren wilhelminischen Vorstellungen von Zucht und Ordnung sahen abschätzig auf die "orientalische Mentalität" herab. Noch nach Jahrzehnten der Zusammenarbeit ließen sie bisweilen den Respekt gegenüber ihren Partnern vermissen. So stellte Generalstabschef Helmuth von Moltke lapidar fest: "DieTürkei ist militärisch eine Null!" Es verwundert daher nicht, wenn der Zuzug qualifizierter Fachkräfte aus Deutschland nicht bei allen Osmanen beliebt war.

Auch die Wirtschaftskooperation zeigte ihre Schattenseiten. Weil sich in der deutschen Finanzwelt zunächst kaum Begeisterung für Bahnprojekte durch die anatolischen Berge oder die arabischen Wüsten regte, musste die Regierung in Istanbul ihr mit Konditionen entgegenkommen, die sie sich eigentlich nicht leisten konnte. Als Folge machten ausstehende Zahlungen an die Deutsche Bank allein schließlich ein Fünftel der gesamten osmanischen Staatsverschuldung aus. Fertiggestellt wurden die neuen Bahnlinien bis zum Beginn des Krieges nicht – die Schuldenkrise aber blieb.

Schon seit Längerem galt der Sultan in Europa nur noch als "kranker Mann am Bosporus". Alle Großmächte waren eifrig damit beschäftigt, diesen "kranken Mann" zu kurieren – den eigenen Vorteil immer im Blick. Für die Politiker in Istanbul ging es nun darum, den Abwärtstrend zu stoppen, ihr Land mit europäischer Hilfe zu modernisieren, ohne dabei aber völlig von der einen oder anderen Macht vereinnahmt zu werden.

Mit dem erklärten Ziel, das Reich endlich wieder zu alter Stärke zu führen, waren die nationalistischen Jungtürken angetreten. Bald hatten sie Sultan und Großwesir zu Statisten degradiert.

Vor 100 Jahren lag die Macht am Bosporus bei einem jungtürkischen Triumvirat aus Kriegsminister Enver Pascha, Marineminister Cemal Pascha und Innenminister Talat Bey. Diese drei wollten den sich abzeichnenden großen Krieg nutzen, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Die Frage war nur, auf welches Pferd man setzen sollte. Letzten Endes gewann die von Enver Pascha angeführte deutschfreundliche Strömung: Am 2. August 1914 schlossen Berlin und Istanbul ein Bündnis, einen Tag nach der deutschen Kriegserklärung an Russland.

Dschihad und Völkermord unter deutscher Aufsicht

Die Probe aufs Exempel kam gut eine Woche später: Zwei deutsche Kriegsschiffe, die Goeben und die Breslau, retteten sich vor einem britischen Geschwader in den Bosporus. Obwohl offiziell noch neutral, nahmen die Osmanen sie auf und integrierten sie kurzerhand in die eigene Marine. Sie hießen nun Yavuz Sultan Selim und Midilli, die Matrosen tauschten ihre Mütze gegen den Fez und hatten jetzt nicht mehr sonntags, sondern freitags frei. Ihr Kommandant war Admiral Souchon – niemand anders befehligte Ende Oktober den osmanischen Vorstoß auf die Krim.

Viele innerhalb der Istanbuler Regierung hätten am liebsten weiter zwischen den verschiedenen Bündnissen laviert. Doch Kriegsminister Enver beauftragte den deutschen Admiral einfach mit dem Überraschungsangriff auf Russland, um so Fakten zu schaffen und endlich offiziell auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten.

In Deutschland begeisterte man sich zur selben Zeit schon für den Dschihad: "Da erhebt sich vor Englands hohlen Augen das Gespenst der Erhebung des gesamten Islam", frohlockten die Leipziger Neuesten Nachrichten, als die Muslime in aller Welt zum Kampf für den osmanischen Kalifen aufgerufen wurden, "ein Ruf des Kalifen, und bis tief nach Arabien, in Algier, in Marokko, wird man ihn hören, und das Band des gemeinsamen Glaubens wird sie alle vereinen."

Talat Bay; Foto: Wikipedia
Talat Bay, auch bekannt als Talat Pascha, war Innenminister, Großwesir des Osmanischen Reichs und zudem Führer der Jungtürken. Durch den Einsatz einer parteiinternen jungtürkischen Miliz und getarnt als „kriegsbedingte Umsiedlung einer unzuverlässigen Minderheit“, gab er Deportationsbefehle und war maßgeblich verantwortlich für den Völkermord an den Armeniern.

Um das Bündnis gegen Großbritannien nicht zu gefährden, verschloss die deutsche Reichsregierung auch die Augen vor einem der großen Verbrechen des Ersten Weltkriegs: dem Völkermord an den Armeniern. Obwohl durch die im Land stationierten Offiziere und Diplomaten schon früh im Bilde, entschloss sie sich zum Stillhalten. Partner wie Cemal Pascha und Talat Bey – die Hauptverantwortlichen für den Genozid – sollten nicht verärgert werden.

Endstation Berlin

Das Bündnis hielt also bis zum bitteren Ende. Deutsche Generäle leiteten Operationen an den Dardanellen, in Syrien, im Irak, an der Grenze zum Iran. Doch auch sie konnten nicht verhindern, dass die Briten im Nahen Osten immer weiter vordrangen: Im Jahr 1917 eroberten britische Truppen, die am Persischen Golf gelandet waren, Bagdad; weiter westlich drangen sie von Ägypten aus in Palästina ein. Die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs waren damit verloren.

Die jungtürkische Regierung hatte offenbar auf das falsche Pferd gesetzt: Im Oktober 1918 musste sie zurücktreten, ihre Nachfolgerin unterzeichnete den Waffenstillstand. Am 2. November brachte ein deutsches U-Boot Enver, Cemal und Talat außer Landes.

In den nachfolgenden Jahren lebten die Mitglieder des jungtürkischen Triumvirats im Exil in Berlin, wo Talat 1921 von einem Armenier ermordet wurde. Das Berliner Landgericht sprach den Attentäter anschließend frei – nach der engen deutschen Verbindung zum osmanischen Regime könnte man fast meinen, aus schlechtem Gewissen.

Jakob Krais

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