
Debatte über ReformislamDer Islam braucht keinen Martin Luther!
Lord Cromer war britischer Generalkonsul in Ägypten, als er 1880 das berühmte Diktum prägte: "Ein reformierter Islam ist kein Islam mehr". Islamistische Apologeten und Vertreter eines traditionellen Islams sowohl in den islamischen Ländern wie auch in islamischen Gemeinden des Westens werden dem gerne zustimmen. Denn "der Islam" ist für sie - und für die meisten gläubigen Muslime - etwas grundsätzlich Vollkommenes, das nicht "reformiert" werden kann.
Doch diese wenig reflektierte Position kann nicht darüber hinwegtäuschen: "Den Islam" als nicht veränderbares Normensystem gibt es nicht! Die Religion des Islams war und ist immer ein Kind ihrer Zeit.
Der renommierte iranische Philosoph Abdolkarim Soroush - er gehört zu den wichtigsten Akteuren der globalen Reformdebatte im zeitgenössischen Islam - betont in seinen Schriften die Wandelbarkeit religiöser Erkenntnis. Seiner Ansicht nach kann es die eine und für alle Epochen und Kontexte gültige "Islamversion" nie geben.
In den Worten Soroushs: "Ich vergleiche das mit einem Fluss. Der Prophet war nur die Quelle des Flusses. Die gesamte islamische Tradition ist der Fluss. Sie fließt Richtung Ewigkeit. Wir sind ein bestimmter Abschnitt des Flusses; die nächste Generation wird ein anderer Abschnitt sein. Wir sollten niemals annehmen, dass Religion ein stehendes Gewässer ist. Sie ist wie ein fließender Fluss".
Pluralität der Lesarten ist der Schlüssel zu Reformen

Das Festhalten an der Fiktion eines "reinen und vollkommenen" Islams ist von der islamischen Geschichte weitgehend entkoppelt. Selbst die vielfältige und hochgradig ausdifferenzierte islamische Theologie war immer ein Mittel der Politik. Allzu häufig fungierte sie als Spiegelbild realer, weltlicher Machtverhältnisse.
Fatalerweise ignoriert dieses traditionelle Islamverständnis die simple Tatsache, dass es seit Beginn der islamischen Zeitrechnung zahlreiche, anspruchsvolle Versuche islamischer Intelektueller gegeben hat, den religiösen Diskurs im Islam zu erneuern und seine Quellen zeitgemäß zu deuten. Schließlich appelliert der Koran leidenschaftlich an das menschliche Erkenntnisstreben.
Aus diesem Grund plädiert beispielsweise der syrische Reformdenker Muhammad Shahrur seit Beginn seiner reformatorischen Arbeit vor 30 Jahren lautstark dafür, dass Muslime sich ohne Unterwürfigkeit gegenüber der Autorität der islamischen Geistlichkeit am Wortlaut der Offenbarungsschrift selbst als eigentlichem Kriterium der göttlichen Wahrheit orientieren mögen.
"Der Koran beinhaltet die absolute Wahrheit Gottes. Diese kann allerdings vom Menschen nur relativ verstanden werden". Das ist ein Kernsatz von Shahrur. Alle innovativen Reformkonzepte müssen von dieser Prämisse ausgehen. Sie ist Grundlage und Grundbedingung für alle reformistischen Ansätze, die ernst genommen werden wollen.
Entscheidend ist: Der Koran lässt viele Lesarten zu. Die Pluralität der Lesarten und der Zugänge ist der Schlüssel zur Realisierung von notwendigen Reformen. Denn die heilige Schrift der Muslime ist eine offene Offenbarungsschrift und kein starres Gesetzbuch, wie uns "Otto-Normal-Islamisten" und auch populistische Islamkritiker landauf, landab weis machen wollen.
Versöhnung des Islam mir der Moderne
Nach jedem perfiden Terroranschlag von islamistischen Fanatikern irgendwo auf der Welt wird der öffentliche Ruf nach einer Reformation des Islam laut. Das ist verständlich. Es ist aber weder realistisch noch wünschenswert. Zumal nicht klar ist, wie diese "Reformation" auszusehen hat – und vor allem: wer sie realisieren soll.

In den meist autoritär regierten islamischen Ländern findet seit dem Aufstieg der IS-Nihilisten zwar eine rege Debatte über die (Mit)-Verantwortung der Muslime für Enthemmungserscheinungen selbst ernannter Gotteskrieger statt. Eine echte Reformdebatte zur Vereinbarung islamischer Werte und Normen mit den Errungenschaften der politischen Moderne sucht man jedoch vergeblich.
Viele islamische Länder sind mit internen Konflikten oder Stellvertreterkriegen beschäftigt und nicht mit Reformdiskursen. Übrigens: Medial wirksam verbreitete Reformankündigungen seitens arabischer Gewaltherrscher wie Ägyptens Militärmachthaber Al-Sisi sind nicht ernst zu nehmen; sie schaden eher der Glaubwürdigkeit der Reformdebatte insgesamt. Schließlich hat der ägyptische Präsident die einst renommierteste sunnitische Universität Al-Azhar in Kairo entmündigt. Ohne politische Freiheiten ist eine umfassende religiöse Reform nicht möglich.
Daher ruhen die Hoffnungen auf neue Reformimpulse auf den europäischen Muslimen. Die können frei von Repression neue Reformideen entwickeln. Dabei sollte es weniger darum gehen, bestimmte liberale oder humanistische "Islam-Versionen" zu privilegieren. Wichtiger wäre es, dafür zu sorgen, dass plurale Islam-Verständnisse und Zugänge an den Zentren für Islamische Theologie an den deutschen Universitäten die Norm sein würden.
Der Islam braucht gewiss keinen Martin Luther! Er braucht eine Versöhnung seiner ethischen Normen mit den Errungenschaften und Realitäten des modernen Verfassungsstaats.
Es ist aus diesem Grund die Aufgabe kritischer Islamdenker, integrative Lösungsmodelle und Lesarten des Islams zu entwickeln, die sich eindeutig im Rahmen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen. Und es unsere gesamtgesellschaftlich Aufgabe, diese Kräfte zu unterstützen.
Loay Mudhoon
© Qantara.de 2016
Leserkommentare zum Artikel: Der Islam braucht keinen Martin Luther!
eigentlich schon mal mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Islam eine Fälschung ist?
Charlene24.05.2016 | 00:35 UhrMohammed behauptete, Juden und Christen hätten die Bibel gefälscht.
Es kann aber genausogut umgekehrt sein.
@ Charlene
Frank Walter24.05.2016 | 16:07 UhrSie scheinen sich weder mit der Entstehungsgeschichte der Bibel noch der Offenbarungsgeschichte des Korans genügend auszukennen. Welche Islamwissenschaft meinen Sie: die nichtmuslimische westliche oder die muslimische? Beide lehnen sich gegenseitig grundsätzlich als voreingenommen ab. Nach den Erkenntnissen der Wissenschaft wurde der Koran häufig unmittelbar nach Offenbarung seiner einzelnen Teile durch den Mund des Propheten Muhammad – Allah segne ihn und gebe ihm Heil – an dessen Gefährten übermittelt und teils auch schriftlich festgehalten. Unter seinem dritten Nachfolger, dem Kalifen ´Uthman, wurden von einer Kommission von Prophetengefährten mehrere Exemplare des Korans in Form von auf Pergament geschriebenen Büchern angefertigt und zusammen mit authorisierten Rezitatoren in die verschiedenen Hauptstädte des neuen Reiches geschickt. Die ältesten heute als Fragmente vorliegenden Koranexemplare sind frühe Abschriften dieser ältesten Exemplare und weichen nur äußerst geringfügig von diesen ab. Bisher ist es den westlichen Islamwissenschaftlern nicht gelungen, hier irgendeine Verfälschung nachzuweisen. Auch die Vorstellung, der Islam sei ein Abklatsch und eine Mischung der früheren Religionen, des Judentums, des Christentums und des altarabischen Heidentums, und er habe sich seine Entsendung als Prophet lügenhafterweise ausgedacht, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Genaue sprachliche Untersuchungen ergeben, dass der Koran weder die Worte Muhammads noch einiger seiner Landsleute sind. Verfälschungen sind allenfalls in den außerkoranischen Quellen nachweisbar.
Nicht Muhammad ist es, der behauptet, die Juden und Christen hätten die Bibel verfälscht, sondern der Koran behauptet es, nur legt er nicht im einzelnen dar, an welchen Stellen dies der Fall ist, sondern überlässt es den Wissenschaftlern, dies selbst herauszufinden. Tatsache ist bspw., dass die Schriften, die das Neue Testament der Bibel ausmachen, darunter die vier kanonischen Evangelien, von Hieronymus unter dem Diktat des katholischen Kaisers Theodosius I und im Auftrag des Papstes Damasus (gegen Ende des 4. Jhs. n. Chr.), ausgewählt und „korrigiert“ wurden.
„Es verbot sich für Hieronymus von selbst, diejenigen Varianten der Schriften des NTs in die Vulgata-Bibel aufzunehmen, die dem katholischen Glauben widersprachen. Gemeint sind z. B. Schriftvarianten der Gegner und Konkurrenten, die die Kirche als häretisch ansieht. Oder sie wurden im gewünschten Sinne korrigiert.“ [Quelle: Dr. Brahim Mokrani, Der Islam ist der Erbe des Judenchristentums und des messianischen Judentums, S. 190]. Erst ab diesem Zeitpunkt galten die ins NT aufgenommenen Schriften als „heilig“, während sie vorher „korrigiert“, bzw. verfälscht werden konnten.
Dies nur als ein Beispiel für die Verfälschung der heiligen Schrift der Christen und der Manipulation daran.
Dieser Kommentar spricht mir aus der Seele!!! Die Anmaßungen einer weitgehend nicht-religiösen Gesellschaft haben in den letzten Jahren einen Rekord reicht. Jeder kann und soll seelig werden wie er will. Das einzig Wichtige: im Rahmen unserer Rechtsordnung. Der agressive Atheismus ist eine Plage unserer Zeit.
Lars Stendal 25.05.2016 | 09:25 UhrEs ist nicht zielführend stets zu behaupten, die heiligen Schriften der anderen könnten gefälscht sein und nur die eigenen sind authentisch. Die Bücher des Neuen Testamentes sind in der Tat lange nach dem Tod Jesu entstanden. Aber der Koran, wie wir ihn heute vorfinden, ist eben auch erst vom 3. Kalifen Uthman zusammengestellt worden. Dabei wurde eine Auswahl getroffen. Und alles, was nicht in diese Auswahl aufgenommen wurde, wurde vernichtet. Aber wie dem auch sei, der gegenseitige Vorwurf der Verfälschung bringt nichts. Für Muslime ist der Koran authentisch und Nicht-Muslimen kann das im Grunde egal sein. Jeder entscheidet für sich selbst, welche heiligen Schriften er anerkennt und welche nicht. Und ob der Islam reformbedürftig ist oder nicht, entscheiden allein die Muslime selbst. Auch sie sind es, die ihre Religion ggf. modernisieren (wenn sie Bedarf hierzu ausmachen). Hauptsache, die Muslime halten sich hierzulande an das Grundgesetz. Die ewige Forderung, der Islam müsse sich reformieren und modernisieren, die immer wieder von außen an die Muslime herangetragen wird, ist anmaßend und zeugt von Arroganz und Überheblichkeit.
Andreas25.05.2016 | 13:32 UhrDie Versöhnung des Islam mit Errungenschaften der Moderne oder besser mit den modernen Verfassungsstaat ist das Einzig wichtige und realistische. Da stimme ich dem Autor zu. Für eine Trennung von Politik und Religion - aber für Demokratie und Menschenrechte und für das Recht auf freie Entfaltung der Religiösität.
Karlolina 26.05.2016 | 11:53 UhrEin absolute realistischer Essay. Ja hier stehen die Muslime und hier müssen wir sie abholen. Ohne Pluralismus geht nichts in einer pluralen Gesellschaft und das ist auch eine Chance für alle Muslime, die über sich selber nicht viel wissen.
Karin 28.05.2016 | 21:18 UhrDas Foto das Sie als Aufmacher für diesen Artikel gewählt haben ist eine Verzerrung der Realitäten und kann nur bei einem Tag der offenen Moschee oder einer ähnlichen Veranstaltung gemacht worden sein. In real gelebten Islam sieht man Männer und Frauen (schon gar keine ohne Kopftuch) bei keinem Gebet gemeinsam in der Moschee im selben Raum. Frauen haben einen eigenen Gebetsraum und dürfen nicht mit den Männern gemeinsam beten.
Ingrid Wecker30.05.2016 | 13:02 UhrLiebe Frau Wecker!
Ich gebe Ihnen recht, daß das Foto bei einem Tag der offenen Tür aufgenommen worden zu sein scheint. Indes verstehe ich nicht, warum dieser Hinweis so wichtig sein sollte. Die Szene könnte ja auch den interreligiösen Dialog darstellen und nicht das Reformthema, das im Artikel angeschnitten wird.
Aber zum Gebet: Ist kein getrennter Gebetsbereich für die Frauen vorhanden, beten sie mit den Männern gemeinsam im selben Raum. Sie stehen dabei hinter den Männern.
MfG, CP.
CP31.05.2016 | 09:27 Uhrbei dieser Debatte um eine Reformation des Islams: es wird nicht wirklich angesprochen, was sich ändern soll. Es wird lediglich gesagt, dass der Islam sich der Zeit anpassen soll oder modern. Das sind allerdings so vage Begriffe, dass jeder sich etwas anderes darunter vorstellen kann. Ein bisschen mehr Klarheit wäre angebracht
Dawud05.06.2016 | 10:53 UhrLiebe/r CP (Schade dass Sie Ihren Namen nicht nennen wollen und lustig, dass immer wieder solche Kommentare veröffentlicht werden, die den Kommentar-Bedingungen widersprechen): Was mein Foto-Hinweis mit dem Artikel zu tun hat oder warum er wichtig sei, fragen Sie? Dann haben Sie glaube ich leider nur wenig von der gesamten Problematik verstanden. Alleine die Tatsache, dass im real gelebten Islam die Frauen (zum Beispiel beim Beten in der Moschee) nicht die gleichen Rechte haben wie die Männer, zeigt doch wohl einiges der Reformbedürftigkeit dieser Religion auf. Warum dürfen Frauen nur hinter Männern beten, wenn überhaupt im gleichen Raum? Weil der Anblick einer nach vorn gebückten Frau die Männer sexuell stimulieren und vom Gebet abhalten könnte. Was für eine Sicht der Dinge? Das ist tiefstes Mittelalter. Die Frauen dürfen natürlich beim Anblick eines männlichen Hinterteils nicht in "Aufregung" geraten. Das gezeigte Foto impliziert eine Freiheit, die es so eben im real gelebten Islam nicht gibt! Deshalb ist der Hinweis wichtig.
Ingrid Wecker06.06.2016 | 14:54 UhrSeiten