Das maurisch-spanische Erbe des Maghreb
Andalusien beginnt in Nordmarokko

Jede Reise nach Südspanien ist wie ein angefangener Traum, der jenseits der Säulen des Herkules, in den andalusischen Städten Nordmarokkos seine charmante Fortsetzung erfährt. Die Beziehungen zwischen Marokko und Spanien sind enger und herzlicher als man allgemein annimmt. Von Mourad Kusserow

In den engen und schattigen Gassen der weißen Medinas (arabisch: Altstadt) Marokkos, in den verborgenen Tälern und Schluchten des rauen Rif-Gebirges, wo abseits vom hektischen Touristenrummel bunte Märkte und Volksfeste abgehalten werden wie vor 100 Jahren und mehr, wo verborgene Ruinen, vergessen und selten von Fremden besucht, von mediterranen Völkerschaften - Phöniziern, Karthagern, Römern oder Arabern - berichten, die einst als Eroberer kamen, aber in der hartgesottenen Bergbevölkerung aufgingen oder weiterziehen mussten, wo der legendäre Rif-Kabylen-Führer Abd el-Krim el-Khatabi in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem fünfjährigen Guerillakrieg spanischen und französischen Kolonialtruppen das Fürchten lehrte, hier lebt der Geist des alten kämpferischen Al-Andalus weiter. Denn die Masse der vertriebenen andalusischen Flüchtlinge, rund zwei Millionen Muslime und Juden, vertrieben von den katholischen Königen, fand in Nordmarokko Aufnahme und Heimat. Viele Marokkaner wissen um ihren andalusischen - europäischen - Ursprung.

Marokkos andalusische Kleinode

Aber es sind vor allem die beiden Städte Tétouan und Chefchaouen, Marokkos andalusische Kleinode, die es uns erlauben, andalusische Lebensarten zu erahnen, mehr noch zu erfühlen. Das mittelalterliche Ambiente und das schon immer von den Arabern gepriesene Glück eines zeitfernen Daseins haben hier fünfhundert Jahre überdauert. Tétouan und Chefchaouen, zweifelsohne Töchter der Stadt Granada, sind besonders stolz auf ihre andalusische Vergangenheit.

Blick auf eine Tür in der historischen Altstadt von Chefchauen, auch die blaue Stadt genannt, im marokkanischen Rifgebirge; Foto: picture-alliance
Marokko - Tor nach Afrika und Pforte zum Mittelmeer, wo sich seit der Antike unterschiedliche Zivilisationen und Kulturen ein Stelldichein gegeben haben, hat es verstanden, das arabisch-andalusische Genie mit den Traditionen der geheimnisumwitterten "Amazighen" (Berber), der Urbevölkerung des "Landes am Atlas", zu harmonisieren.

Bereits 1430 ließen sich erste Flüchtlinge aus Mortil, Baza, Ronda, Loja und Granada, angeführt von einem Heerführer namens Abd ul-Hassan Sli al-Mandari, in Tétouan nieder, wo sie übereinkamen, wegen der landschaftlichen Ähnlichkeit, die sie stark an Granada erinnerte, ihre Wohnstatt neu zu errichten. Neben der Medina quartierten sich dann jüdische Flüchtlinge aus Al-Andalus ein - die heutige Mellah (Judenviertel) von Tétouan stammt aus damaliger Zeit.

1501 traf schließlich das Hauptkontingent der andalusischen Emigranten aus Granada in Tétouan ein; zuvor, 1471, hatten vertriebene Andalusier die Stadt Chefchaouen gegründet, etwa 50 Kilometer südöstlich von Tétouan gelegen. Der größte Teil der in Nordafrika gestrandeten andalusischen Flüchtlinge - kleinere Gruppen zogen weiter nach Algerien und Tunesien -, die sich im 17. und 18. Jahrhunderte der lukrativen Seeräuberei verschrieben hatten, rekonstruierte das verlorene Al-Andalus im nordmarokkanischen Exil.

Tétouan - die vielleicht schönste Stadt Afrikas

Sie verpflanzten so andalusische Kunstfertigkeit, Farben- und Formenschönheit sowie den andalusisch-mediterranen Charme ihres Lebensstils nach Tétouan und umgaben die Stadt mit einer mächtigen Mauer - bis heute gilt die andalusische Altstadt von Tétouan mit ihren sieben Toren als die vielleicht schönste Stadt Afrikas, der schon 961 vom Kalifen von Córdoba die Stadtrechte verliehen worden waren.

Tétouan hat im Laufe ihrer 500jährigen Geschichte den maurisch-spanischen Charakter bewahren können, mehr noch: im Herzen aller Nordmarokkaner wohnt eine andalusische Seele, die sich nicht nur in den kobaltblauen Fayencen, in der üppigen und mit künstlerischen Raffinesse gestalteten Fliesenkeramik, vor allem in Innenhöfen, Moscheen, öffentlichen Bädern, Teestuben, Parkanlagen, Gärten, Brunneneinfassungen und herrschaftlichen Häusern von Tétouan anzutreffen, manifestiert, sondern auch in der andalusischen Musik, die sich in ganz Nordafrika, neben Algerien, Tunesien und Libyen vor allem aber in Marokko, bis auf den heutigen Tag in ihrer ganzen Schönheit und orientalischen Dynamik erhalten hat.

Die Redaktion empfiehlt