Lyrisches Neuland

Viele arabische Bürgerkriegsflüchtlinge mussten ihren Wohlstand in der vom Krieg zerstörten Heimat zurücklassen, um sich nach Europa zu retten. Mit sich bringen sie aber nicht nur ihre traumatischen Erlebnisse, sondern auch ihren literarischen Reichtum, der für viele von uns noch immer unbekannt ist. Von Melanie Christina Mohr

Von Melanie Christina Mohr

Wir leben in polarisierenden Zeiten. Die Flüchtlingskrise hat Europa bereits nachhaltig verändert und wird dies wohl auch noch in Zukunft tun. Darin liegt allerdings auch die Chance, dass sich das konstruierte Bild des Westens vom Orient wandelt und durch die Authentizität und Vielfalt der ankommenden Menschen in seiner natürlichen Form ändert.

Der Wunsch, die Flüchtlingskrise von ihren negativen Aspekten zu lösen und als Möglichkeit zu begreifen, wird im kulturellen, insbesondere im literarischen Austausch Gehör finden. Denn künftig wird es darum gehen, immer wieder aufs Neue aktive Kulturschaffende zu finden und zu mobilisieren, die es sich zur Aufgabe machen, der nationalen Mystifizierung transnationale Gesellschaftsstrukturen entgegenzusetzen. Literatur kann einer der Motoren für diesen Prozess sein.

Ein herausragender Teil arabischer Literaturschätze blieb dem Westen bisher verborgen. Nicht zuletzt deshalb, weil es in der Vergangenheit oft an passablen Übersetzungen mangelte . Dem kann nun Abhilfe geschaffen werden, denn kaum einer kennt die Geschichten und die hiesige arabische Literaturszene besser als die Menschen, die dieser Tage Europa erreichen.

Das Verhältnis von Tradition und Moderne - das zentrale Thema der modernen arabischen Literatur - welches sich von außen nur mit Mühe greifen lässt - kann nun aus erster Hand lebendig und für ein großes Publikum erfahrbar werden. Aus der Tragödie, die sich durch Krieg, Flucht und Grenzzäune zu einem unmenschlichen Gebilde geformt hat, kann so ein neues, ein gemeinsames Bildnis entstehen.

Schattendasein der arabischen Literatur im Westen

Der deutsche Literaturwissenschaftler Hartmut Fähndrich; Foto: picture-alliance/dpa/F. May
"Autoren aus der arabischen Welt fühlen sich im Westen immer etwas unterbewertet", konstatiert der deutsche Literaturwissenschaftler und renommiertesten Übersetzer arabischer Literatur im deutschen Sprachraum, Hartmut Fähndrich. "Statt ästhetische Fragen zu stellen, befragt man sie nach der Rolle der Opposition in ihrem Land", meint er.

Nebst der Translation mangelte es dem westlichen Publikum bislang auch an Interesse und Wertschätzung der arabischen Literatur. Zwar setzt sich die deutsche Komparatistik und Orientalistik seit langer Zeit aktiv mit den literarischen Produktionen der arabischen Welt auseinander - aber der Kreis jener, die Zugang und Interesse daran haben, ist überschaubar.

Zudem schafft es nur selten ein intellektueller arabischer Kopf in das Feuilleton deutscher Zeitungen oder Magazine. Meist gipfelt die Selektion der zuständigen Kulturredakteure in der Veröffentlichung jener Autoren, die schon hochgelobt und bis zur Ermüdung in westlichen Medien gefeiert wurden. Der Tellerrand wird nur bedingt erklommen, darüber hinaus führt der Weg jedoch selten.

Auch wenn wir in einer Zeit leben, in der literarische Studien über kontinentale Grenzen hinweg diskutiert werden und die globale Bühne viel eher zu erreichen ist als noch im letzten Jahrhundert, bleibt insbesondere die moderne arabische Literatur hierzulande immer noch weitgehend unbekannt.

Annemarie Schimmel; Foto: AP
Brücke zur Verständigung: Die berühmte Orientalistin Annemarie Schimmel hat zu Lebzeiten festgehalten, dass "man große Schriften, heilige Schriften, verehrte Schriften, große Gedichte in allen Sprachen, nicht mit unserer westlichen Haltung zu interpretieren versucht, sondern dass man sie sich von jemandem erklären lässt, mit jemandem lebt, mit jemanden liest, der auch den inneren Sinn zwischen den Zeilen versteht".

Dies lässt sich exemplarisch an zwei Sachverhalten festmachen. Zum einen zählt die arabische Literaturszene im internationalen Vergleich zu den am wenigsten erforschten Literaturlandschaften. Zwar wird in der arabischen Welt Literaturkritik praktiziert und durch herausragende Stimmen - wie etwa von Abdelfattah Kilito - befeuert, dennoch beschränkt sich dieser Kreis auf eine kleine Anzahl und wird auch nicht, wie in vielen anderen Bereichen - beispielsweise der modernen Kunst - von der Diaspora übernommen.

Licht ins Dunkel bringen

Die berühmte Orientalistin Annemarie Schimmel hat zu Lebzeiten festgehalten, dass "man große Schriften, heilige Schriften, verehrte Schriften, große Gedichte in allen Sprachen, nicht mit unserer westlichen Haltung zu interpretieren versuchen sollte, sondern dass man sie sich von jemandem erklären lässt, mit jemandem lebt, mit jemanden liest, der auch den inneren Sinn zwischen den Zeilen versteht".

Die Voraussetzungen dies zu tun, waren nie günstiger. Wobei Schimmel mit ihrem Appell bereits einen Schritt weiter ist. Denn die Interpretation arabischer Literatur setzt zunächst deren Verständnis und Reflexion zwingend voraus.

Es wird in Zukunft also um zwei Dinge gehen: Gegenseitige Kenntnis und gegenseitiges Lernen voneinander. Wenn die "kulturelle Selbstbehauptung" ein wenig weicht, findet schließlich auch die Diversität ihre Nische.

Eine wunderbare Möglichkeit dies zu tun, ist gemeinsam zu lesen. Denn die Menschen, die erst vor Kurzem nach Deutschland gekommen sind, bringen einen unglaublichen Schatz mit sich: einen Kopf voller neuer Geschichten und Gedichte. Lyrisches Neuland, das sich in kleinen und großen Runden genießen und diskutieren lässt und - abgesehen von dem kulturellen Erkenntnisgewinn - einen wichtigen Beitrag im Prozess der Verständigung und Annäherung einnehmen kann.

Melanie Christina Mohr

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